Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
in verständliche Formeln und prächtige bunte Ikonen gefaßt. Jeder hat Anrecht auf das Heil.
DOS dagegen ist protestantisch, ja geradezu calvini-stisch. Es sieht eine freie Auslegung der Schriften vor, es verlangt schwierige persönliche Entscheidungen, es zwingt dem Gläubigen eine subtile Hermeneutik auf und nimmt als gegeben, daß nicht jeder zum Heil gelangt. Um das System funktionieren zu lassen, sind persönliche Exegesen des Programms erforderlich. Weit entfernt von der barocken Festgemeinde, sitzt der Benutzer eingeschlossen in der Einsamkeit seiner Gewissensnot.
Man wird mir entgegenhalten, mit dem Übergang zu Windows habe die DOS-Welt sich der gegenreformatori-schen Toleranz des Macintosh angenähert. Richtig: Windows repräsentiert ein Schisma vom anglikanischen Typus, große Zeremonien in der Kathedrale, aber stets mit der Möglichkeit einer schnellen Rückkehr zu DOS, um aufgrund bizarrer Entscheidungen eine Vielzahl von Dingen zu ändern; letztlich könnte man, wenn man will, auch das Priesteramt den Frauen oder den Schwulen anvertrauen.
Natürlich haben Katholizismus und Protestantismus der beiden Systeme nichts mit den kulturellen und religiösen Positionen ihrer Benutzer zu tun. Neulich mußte ich entdecken, daß Franco Fortini, der strenge und immer zer-quälte Dichter, der noch dazu ein erklärter Feind der Gesellschaft des Spektakels ist, auf einem Macintosh schreibt, es war kaum zu glauben. Allerdings muß man sich fragen, ob die Benutzung des einen Systems anstelle des anderen nicht auf die Dauer zu tiefen inneren Verwerfungen führt. Kann man ernstlich DOS-User und zugleich aufrichtiger Papst-Fan sein? Und übrigens: Hätte Céline mit Word, mit WordPerfect oder mit Wordstar geschrieben? Hätte Descartes in Pascal programmiert?
Und die Maschinensprache, die im tiefen Untergrund über das Schicksal beider Systeme entscheidet, gleich in welcher Umgebung? Nun, die ist Altes Testament, Talmud, Kabbala ...
1994
* Dieser Streichholzbrief wurde vor sechs Jahren geschrieben. Inzwischen haben sich die Dinge geändert. Die diversen releases haben Windows 95 und 98 dazu geführt, zusammen mit Mac entschieden tridentinisch-katholisch zu werden. Die Fackel des Protestantismus ist in die Hände von Linux übergegangen. Aber der Gegensatz ist geblieben (A. d. A., 1999).
Chronik einer sündigen Nacht
Wenn sie das Internet zu erkunden beginnen, gehen fast alle sofort daran, sich mit Playboy und Penthouse in Verbindung zu setzen. Nachdem sie das einmal getan und sich die Ausklappseiten mit den Häschen der letzten zwei bis drei Monate auf den Bildschirm geholt haben, lassen sie’s bleiben, denn - wie groß und hochauflösend der Bildschirm auch sein mag - es ist leichter und befriedigender, sich das Heft am Kiosk zu kaufen. Doch gewöhnlich erzählen einem die Freunde, sie hätten irgendwo unerhörte Bilder gefunden, und so versucht man es eben auch mal, sei’s auch nur, um zu beweisen, daß man ein guter »Surfer« ist.
Vorgestern nacht, müde vom Navigieren zwischen Bibliographien über die Metapher, Programmen zur Erzeugung von Hypertext-Stories und der Kritik der reinen Vernunft in einer alten englischen Übersetzung, die nicht mehr dem Copyright unterliegt, verlangte ich von meinem Web Crawler »Sex«. Er identifizierte 2088 Adressen und gab mir die ersten 100. Die Anarchie des Internet führt dazu, daß man nie wissen kann, welche Adressen die interessanten und welche die blöden sind. Ich las vielversprechende Titel wie »Die Gärten der Lust«, »Bilder nur für Erwachsene«, »Arrgghhhh, nackte Frauen!!«, »Die Sexgöttinnen der westlichen Hemisphäre«, aber meistens geriet ich an Orte, wo mir leckere Bilder nur dann versprochen wurden, wenn ich zuvor eine Überweisung tätigte.
Unverzagt weiterklickend gelangte ich schließlich zu »Kramer’s Korner-Erotica«, von wo aus ich mich mit »Supermodels«, mit »Very Hot Links«, erneut mit Pent-house und Playboy sowie mit »Babes on the Web« in Verbindung setzen konnte. Ich wählte »Supermodels«, und da lieferte mir dieser Mr. Kramer Fotos (bekleidet) und Informationen über eine Reihe von Models, die ihm sympathisch sind. Ich klickte auf Cindy Crawford und erfuhr alles über sie, aber ungefähr so, als hätte ich mir ein Heft von La famiglia cristiana gekauft.
Enttäuscht versuchte ich es mit »Very Hot Links«, von wo aus ich wieder auf Playboy verwiesen wurde sowie auf ein Western Canada’s Gay and Lesbian Magazine, das mir jedoch
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