Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
vielerlei Dingen und läßt sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen, aber an einem bestimmten Punkt, im vierten Kapitel, kommt es auf ein geflügeltes Wort von Tschechow zu sprechen, das mit dem Gewehr an der Wand. »War das nicht von Puschkin?« Ich weiß nicht, mal wird es Tschechow, mal Puschkin zugeschrieben, aber wenn Lotman sagt, es sei von Tschechow, dann glaube ich ihm.
Es handelt sich um die berühmte Empfehlung, der zufolge ein Gewehr an der Wand, wenn es am Anfang einer Erzählung erwähnt oder im ersten Akt eines Stückes zu sehen ist, vor dem Ende einen Schuß abgeben muß. Dazu schreibt nun Lotman: »Tschechows Regel hatte nur Sinn innerhalb einer bestimmten Gattung, die heute obendrein völlig erstarrt ist. In Wirklichkeit ist es gerade die Ungewißheit, ob das Gewehr einen Schuß abgeben wird oder nicht und ob dieser Schuß eine tödliche Verletzung bewirkt oder sich nur als der Krach einer auf den Boden gefallenen Konservendose herausstellt, was der Handlung einen Sinn verleiht.«
Und kurz davor hatte er geschrieben: »Wenn der Zuschauer sich in Gedanken in jene gegenwärtige Zeit< versetzt, die im Text realisiert wird (zum Beispiel im >gege-benen< Bild, während ich es betrachte), ist es, als richte er seinen Blick in die Vergangenheit, die sich zusammenzieht wie ein Kegel, der mit seiner Spitze in der gegenwärtigen Zeit ruht. Indem das Publikum seinen Blick in die Zukunft richtet, versinkt es in einem Bündel von Möglichkeiten, die ihre potentielle Wahl noch nicht getroffen haben.«
Verstanden? Und du meinst, der Leser wolle sich dieser Spannung, dieser lustvollen Qual begeben, um selbst zu entscheiden, wie die Geschichte ausgeht? Einen Roman liest man, um den Schauder des Schicksals zu verspüren. Wenn ich selbst über das Schicksal der Personen entscheiden könnte, wäre es, als wenn ich in ein Reisebüro ginge und beim Buchen einer Reise um die Welt gefragt würde: »Und wo wollen Sie dem Weißen Wal begegnen, bei Samoa oder bei den Aleuten? Mit dem Round-the-World-Ticket kostet’s dasselbe ...«
In einem Roman stehen vielerlei Dinge, es wird sogar gesagt, daß - was weiß ich - eine Wolke am Himmel vorüberzieht oder eine Eidechse zwischen den Steinen huscht. Noch einmal Lotman: »Die Unkenntnis der Zukunft erlaubt uns, allem eine Bedeutung zu geben.« Das ist schön. Herauszufinden, worauf es ankommt, und es noch nicht zu wissen. Erst am Ende weißt du, wenn überhaupt, was du dir hättest besser ansehen (oder überhaupt erstmal sehen) müssen, und manchmal weißt du nicht einmal das, und deshalb mußt du das Ganze noch einmal von vorne lesen, und beim Wiederlesen wird sich dir auch die Bedeutung des Ganzen verändern. Doch am Anfang und während des Lesens bist du wie mitten in einer detektivischen Untersuchung, und der Schuldige ist der Autor.
Und da glaubst du im Ernst, die Leute würden dafür bezahlen, daß sie selber entscheiden können, ob sich die Brautleute Renzo und Lucia am Ende kriegen? Vielleicht einmal ausnahmsweise, zum Spaß, so wie man auf dem
Jahrmarkt auch mal zur Schießbude geht. Aber Geschichtenlesen ist eine andere Geschichte.
»Muß ich wirklich nicht um meine Zukunft fürchten«, fragt mich mein Schriftstellerfreund. »Doch, in einer Hinsicht schon, aber nur, weil du von dir aus schlechte Romane schreibst - und auch das ist eine andere Geschichte.«
(Anmerkung: Den Anstoß zu diesem Lehrstück gab mir ein Gespräch mit einem Freund, der sehr schöne Romane schreibt. Aber ich brauchte eine Schießbudenfigur, um diesen Streichholzbrief zu beenden.)
1993
Ein neuer Heiliger Krieg: Mac gegen DOS
Ungenügende Beachtung hat der verborgene neue Religionskrieg gefunden, der im Begriff ist, unsere moderne Welt tiefgreifend zu verändern. Ich habe den Verdacht schon lange, aber jedesmal, wenn ich ihn irgendwo erwähne, stelle ich fest, daß die Leute mir spontan zustimmen.
Tatsache ist, daß die Welt sich heute in Benutzer des Macintosh und Benutzer der mit DOS laufenden Computer teilt. Ich bin der festen Überzeugung, daß der Macintosh katholisch und DOS protestantisch ist. Mehr noch, der Mac ist katholisch im gegenreformatorischen Sinn, durchdrungen von der jesuitischen »ratio studiorum«. Er ist heiter, freundlich und entgegenkommend, er sagt dem Gläubigen, wie er Schritt für Schritt vorgehen soll, um wenn nicht das Himmelreich, so doch den Moment des erfolgreichen Ausdruckens der Datei zu erreichen. Er ist ka-techistisch, das Wesen der Offenbarung wird
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