Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Prozeß korrekt geführt worden ist. Ich formuliere eine Hypothese, die ich auf Basis der mir bekannten Prozeßdaten für vernünftig halte. Aber ich kann nicht so tun, als ob meine Reaktion auf die mir bekannten Daten nicht auch in gewisser Weise von einem Vor-Urteil gelenkt würde. Auch wenn ich keine emotionalen Vorurteile habe, bin ich nicht frei von rationalen. Das ist kein Oxymoron, es gibt durchaus rationale Vorurteile: Jeder, der etwas zu untersuchen beginnt, hat vorher zumindest den Ansatz eines Gedankengangs formuliert, der ihn dazu bringt, einer bestimmten Hypothese eher zu folgen als einer anderen.
Daher will ich die »narrativen« Gründe meines Vorurteils nennen. Der Terminus »narrativ« ist hier nicht einschränkend zu verstehen. Ich gehöre zu denen, die der Ansicht sind, daß narrative Bedingungen jeden Akt des Verstehens lenken, nicht nur in der Geschichtsforschung, sondern auch in der Wahrnehmung; um ein beliebiges Phänomen zu begreifen, versuchen wir stets, eine irgendwie »kohärente« Abfolge zu erkennen. Wenn im Frühjahr 42
eine Blume auf der Wiese wächst, die früher nie dort zu sehen war, dann ist es kohärenter und »ökonomischer« anzunehmen, daß im letzten Herbst irgendein natürliches Agens einen Samen dorthin gebracht hat, als anzunehmen, in der Nacht sei ein geisterhafter Gärtner gekommen und habe sie dort hingepflanzt. Die erste Geschichte ist wahrscheinlicher als die zweite und wird daher lieber als Hypothese genommen.
Kommen wir nun zur Geschichte von Sofri und Lotta
Continua. Jedem, der seinerzeit die Zeitung Lotta Continua gelesen hatte, gleich ob er ihre Ansichten teilte oder nicht, ist ein typisches Merkmal dieses Blattes und der gleichna-migen Gruppe aufgefallen. Während die anderen Publika-tionen der Achtundsechzigerbewegung sich meistens einer doktrinären Sprache bedienten oder, in krasseren Fällen, sich in Beschimpfungen ergingen, hatte Lotta Continua einen neuen journalistischen Ansatz erfunden, im Gebrauch der Sprache, im Wortschatz, in der Syntax, im Formulieren der Überschriften. Es ist keineswegs ein Zufall, daß eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Führungskader der Gruppe heute bekannte Figuren des Journalismus sind (was auch erklärt, warum die Solidarität mit Sofri so medien-wirksam geworden ist). Lotta Continua, als Zeitung und Gruppe, hatte einen im Panorama der Achtundsechziger einzigartigen journalistischen Ansatz, den wir, ohne ihr zu nahe zu treten, als »persuasiv« definieren können. Ihre Sprache war medial und hatte das Hauptkennzeichen der Massenmedien: Der Adressat muß rhetorisch bearbeitet, gepackt, mitgerissen, verführt, überredet werden, man darf seinen Konsens nie voraussetzen, sondern muß ihn herbei-führen. Der persuasive Aspekt, ich möchte fast sagen, der wache Blick für die Reaktionen des Publikums war das charakteristische Merkmal, das Lotta Continua von den anderen Gruppen der Bewegung unterschied.
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Was war nun das politische Projekt der Gruppe in der Affäre Calabresi? Es scheint mir evident: Sie wollte den verhaßten Kommissar delegitimieren, ihn auf die Ankla-gebank zerren wegen Mordes an dem Anarchisten Pinelli, oder wenigstens so viele Leute wie möglich von seiner Schuld überzeugen, um mit ihm die Macht zu delegitimieren, zu deren Symbol sie ihn erkoren hatte. Man kann Lotta Continua vorwerfen, das falsche Symbol gewählt zu haben, unerbittlich und gnadenlos gewesen zu sein, sich ihren Schuldigen selbst gezimmert zu haben, dabei so weit gegangen zu sein, viele zu einem irrationalen Haß auf ihn getrieben zu haben, man kann ihr alles vorwerfen, aber man muß zugeben, daß dies ihr Projekt war.
Deshalb brauchte Lotta Continua einen lebendigen, extrem gut zu beschuldigenden Calabresi, seine Präsenz war geradezu eine Bedingung ihres Überlebens. Und da die Redakteure der Zeitung und die Anführer der Gruppe einen ausgeprägt massenmedialen Sinn hatten, konnten sie nicht übersehen, daß ein getöteter Calabresi das genaue Gegenteil dessen geworden wäre, was sie wollten: nicht mehr ein Schuldiger, sondern ein Opfer, nicht mehr der Böse, sondern der Held. Dies jedenfalls sagte ihnen sowohl der Common Sense wie der journalistische Sinn.
Gewiß kann niemand eine Wahnsinnstat ausschließen, aber bisher hatte ich nicht den Eindruck, daß im Prozeß Sofri eine Geisteskrankheit aufs Tapet gebracht worden wäre. Anders ausgedrückt, wenn heute ein mysteriöser Tä-
ter reihenweise Bomben in Kinos legen würde,
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