Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
»wie kannst du dem Tod entgegenge-hen, selbst als Gläubiger, wenn du denkst, daß im Moment deines Todes höchst begehrenswerte junge Leute beiderlei Geschlechts gerade in Diskotheken tanzen und sich über die Maßen amüsieren, daß erleuchtete Wissenschaftler die letzten Geheimnisse des Kosmos ergründen, daß unbe-stechliche Politiker im Begriff sind, eine bessere Gesellschaft zu errichten, daß Zeitungen und Fernsehstationen bestrebt sind, nur relevante Nachrichten zu bringen, daß verantwortliche Unternehmer sorgsam darauf achten, mit ihren Produkten nicht die Umwelt zu verschmutzen, und es sich angelegen sein lassen, eine Natur wiederherzustellen, die gemacht ist aus klaren Bächen, bewaldeten Hängen, reinen und heiteren Himmeln im Schutze vorsorglichen Ozons und weichen Wolken, die wieder sauberen Regen spenden? Der Gedanke, daß du davonmußt, während all diese herrlichen Dinge geschehen, wäre doch unerträglich.
Versuche nun aber einmal zu denken, du hättest in dem Moment, in welchem du bemerkst, daß du dich anschickst, dieses Jammertal zu verlassen, die unerschütterliche Ge-wißheit, daß die Welt (fünf Milliarden Menschen) voller Trottel und Blödmänner ist, daß es Trottel sind, die in der Disko tanzen, Blödmänner die Wissenschaftler, die glauben, die Rätsel des Kosmos gelöst zu haben, Trottel und Blödmänner die Politiker, die das Allheilmittel für unsere sämtlichen Übel verkünden, Trottel und Blödmänner die Schreiberlinge, die Seiten um Seiten mit fadem Allerwelts-geschwätz füllen, Trottel und Blödmänner die selbstmörde-rischen Produzenten, die den Planeten zerstören. Wärst du in jenem Moment nicht glücklich, erleichtert und zufrieden, diese Welt voller Trottel und Blödmänner zu verlassen?«
Darauf fragte mich Kriton: »Aber wann, Meister, muß ich anfangen, so zu denken?« Ich antwortete ihm, damit 172
dürfe man nicht zu früh anfangen, denn einer, der mit zwanzig oder auch mit dreißig denkt, daß alle anderen Blödmänner sind, ist ein Blödmann und wird es niemals zur höheren Weisheit bringen. Man muß zunächst denken, daß alle anderen besser sind als man selbst, dann muß man sich langsam entwickeln, die ersten schwachen Zweifel muß man gegen vierzig haben, das Umdenken zwischen fünfzig und sechzig beginnen und zur Gewißheit gelangen, während man auf die Hundert zugeht, immer bereit, das Konto ausgeglichen zu schließen, sobald das Telegramm mit der Einberufung kommt.
Sich davon zu überzeugen, daß alle anderen, die uns umgeben (fünf Milliarden), Trottel und Blödmänner sind, ist das Ergebnis einer feinen und weitsichtigen Kunst, es steht nicht zur Disposition des erstbesten Ladenschwen-gels mit Ring am Ohr (oder in der Nase). Es erfordert flei-
ßiges Studium und Geduld. Man darf es nicht überstürzt herbeizwingen, man muß es sachte erreichen, genau zur rechten Zeit, um in Heiterkeit zu sterben. Am Tag davor muß man noch denken, daß irgendwer, den man liebt und bewundert, nun gerade kein Blödmann ist. Die wahre Weisheit besteht darin, genau im richtigen Augenblick (nicht vorher) anzuerkennen, daß auch er ein Trottel ist.*
Erst dann kann man sterben.
»Infolgedessen«, schloß ich, »besteht die große Kunst darin, Schritt für Schritt das allgemeine Denken zu analysieren, die Wechsel der Moden zu beobachten, Tag für Tag die Massenmedien zu sichten, die Erklärungen der selbstsicheren Künstler, die Sprüche der abgehobenen Politiker, die Philosopheme der apokalyptischen Kritiker, die Aphorismen der charismatischen Helden zu verfolgen, die Theorien, die Vorschläge, die Appelle, die Bilder, die Er-
* Aus Gründen der politischen Korrektheit sei angemerkt, daß der letzte Trottel auch eine Sie sein kann.
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scheinungen zu studieren. Erst dann, ganz am Ende, wirst du die überwältigende Offenbarung haben, daß alle anderen Blödmänner sind. An diesem Punkt wirst du bereit sein, dem Tod zu begegnen.
Aber bis zum Ende wirst du dich gegen diese unerträgliche Offenbarung wehren müssen, wirst dich darauf ver-steifen müssen zu denken, daß irgend jemand doch noch vernünftige Dinge sagt, daß ein bestimmtes Buch besser als andere ist, daß ein bestimmter Volkstribun wirklich das Gemeinwohl im Sinn hat. Es ist ganz natürlich, es ist menschlich, es ist das Kennzeichen unserer Spezies, sich gegen die Überzeugung zu wehren, daß alle anderen unterschieds- und ausnahmslos Trottel sind, wozu lohnte es sich sonst zu leben? Doch wenn du es ganz
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