Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
sondern als eine Art Seifenoper, die mittlerweile recht langweilig und voraussehbar geworden ist und der man bestenfalls eine amüsiert-sarkastische Glosse widmet. Tatsächlich versuchte die betreffende Glosse zu ergründen, wie es möglich ist, daß in unserer Bananenrepublik die für Erdbebenopfer bestimmten Gelder irgendwo versickern und die Minister, die das Paket der Anti-Mafia-Gesetze geschnürt haben, mit den Stimmen der Mafiosi gewählt worden sind.
* Am 27. 3. 1993 war gegen Ex-Ministerpräsident Giulio Andreotti offiziell Anklage wegen Beteiligung an der Mafia erhoben worden (A. d. Ü.).
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Versuchen wir, die Torts und die Schandflecken gleich-mäßig zu verteilen. Die Amerikaner wissen genau (vergessen es aber gern), daß es auch ihre Schuld ist, wenn in Italien während der letzten vierzig Jahre geschehen ist, was geschehen ist – so wie es ihre Schuld ist, wenn sie, um die Kubaner niederzuhalten, jahrzehntelang die übel-sten Diktaturen Mittelamerikas finanziert haben. Es ist, als ob sie uns sagten: »Ja, stimmt schon, wir mußten euch doch beschützen, aber es ist eure Schuld, wenn ihr es geduldet habt.« Jetzt entrüsten sie sich, aber vorher haben auch sie es geduldet. Wollte man ein bißchen Hintergrund- und Strippenzieherkunde betreiben, könnte man sogar insinuieren, daß die Amerikaner auch die KPI finanziert haben, denn eine starke KP garantierte, daß Italien dem westlichen Lager treu blieb, während ein Italien ohne KP sich hätte einfallen lassen können, wie Frankreich eigene Wege zu gehen und womöglich die Karte der mediterranen Vorherrschaft auszuspielen, die natürlich pro-arabisch gewesen wäre, und dann ade mit Nato-Stütz-punkten auf Sizilien.
Spiegelbildlich symmetrisch zu diesem Szenario der Amerikaner erscheint mir jedoch allmählich die Empörung unseres ach so tugendhaften Landes angesichts der diversen Fäulnisstellen, die nun jeden Tag entdeckt werden. Ich erinnere mich, daß vor zwei Jahren Bob Silvers, der Direktor der New York Review of Books ,der Italien gut kennt und liebt, mich mit amerikanischer Treuherzigkeit fragte, wie es sein könne, daß die Italiener zwar bestens wissen, wer bei ihnen Banken beraubt, Bomben in Züge legt und so weiter, aber dennoch nicht in der Lage sind, das Problem zu lösen. Ich antwortete ihm – und das war, wie gesagt, vor zwei Jahren –, daß es deswegen sein könne, weil die Mehrheit des Landes im Grunde einverstanden ist.
Daß sie im Grunde einverstanden ist, wird durch die 57
Wahlergebnisse bewiesen: Die Italiener haben seit vierzig Jahren für die Parteien gestimmt, die sie jetzt schmähen.
Warum sie einverstanden sind, ist eine Frage, die mit der von Michel Foucault beschriebenen Dynamik der Macht erklärt werden muß: Da war nicht bloß eine Handvoll korrupter Politiker, die das Land ausbeutete, alle Bürger zogen mehr oder weniger Vorteile aus der Art, wie die Dinge liefen. Wie der kleine Ladeninhaber, der den Gangster bezahlt, damit er das Viertel beschützt: Er muß dafür etwas hinblättern, aber er weiß wenigstens, was er zu erwarten hat und wen er um Schutz bitten kann, falls ein Galgenvo-gel aus dem Nachbarviertel bei ihm auftauchen sollte.
Die Italiener wußten, zu wem sie gehen mußten, um eine Gunst zu erbitten, was sie kostete, was zu tun war, um eine Strafe nicht bezahlen zu müssen, wie man mit Hilfe eines Empfehlungsbriefs eine nicht allzu mühsame Arbeit fand, wie man öffentliche Aufträge bekam, ohne schwierige Ausschreibungen zu gewinnen … Mit einem Wort, es paß-
te ihnen ganz gut so, wie es war, und deswegen gaben sie ihre Stimme mit zugehaltener Nase ab. Wer, bitteschön, hat denn die ganzen Jahre für Andreotti gestimmt? Die paar armen Teufel von Il Manifesto* ?
Heute sind mindestens 95 Prozent des Landes entrüstet und schreien »Dieb«, wenn sie einen Abgeordneten auf der Straße erkennen. Haben sie alle die Radikalen ge-wählt? Haben sie öffentliche Gesundheitskomitees gebildet? Haben sie sich schon damals empört, aber dann alles runtergeschluckt? Nein, wir erleben derzeit nicht die Re-volte eines gesunden Landes gegen eine Handvoll korrupter Machtpolitiker, sondern wir müssen die Gewissensprü-
fung eines mehrheitlich korrupten Landes in Angriff nehmen. Es darf nicht wieder heißen wie am 25. April:
»Ich war nicht dabei auf der Piazza Venezia …« Und wo
* Il Manifesto : unabhängige linke Tageszeitung (A. d. Ü.).
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warst du, als die Brüder Rosselli in Frankreich umgebracht wurden?
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