Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
möglichen Dokumente zu sammeln, auch die geringfügigsten, 64
und es ist sein Beruf, in einem Archiv zu entdecken, daß ein Individuum namens Soundso zu der und der Zeit das und das getan hat. Aber wenn der Historiker nichts weiter als dies täte, wäre er bloß ein Sammler von Daten über die Vergangenheit, also bloß ein Zulieferer des Historikers.
Der wahre Historiker ist derjenige, der diese Daten zu einem allgemeineren Mosaik zusammenzufügen sucht und sich bemüht, das Einzelereignis in einem globalen Rahmen zu sehen, indem er seine Ursachen und seine Auswirkungen auf spätere Ereignisse identifiziert und es schließ-
lich eben »historisch« bewertet. Es ist eine Sache, zu wissen, daß jemand während der Französischen Revolution jemand anderen, dem er Geld schuldete, denunziert und unter die Guillotine gebracht hat, und es ist eine andere, den »Sinn« der Französischen Revolution historisch zu bewerten.
Mir scheint, daß die alle Jahre wieder ausbrechenden Polemiken gegen die Resistenza die Vergangenheit so behandeln, wie der Journalismus die Gegenwart behandelt, die sich nur stückweise und in Einzelereignissen aufzeigen läßt – es sei denn, das Einzelereignis wird stillschweigend zum Exempel erkoren und das Urteil über dieses Exempel wird unerlaubter-, aber fatalerweise zum Urteil über eine Epoche, eine Gruppe oder eine Gesellschaft.
Ich weiß, wir haben Sommer, und da muß man auf Teufel komm raus irgendwas erfinden, um gelesen zu werden.
Aber jener düstere, große, schreckliche und nicht wegzu-diskutierende Moment, den Italien nach dem September 1943 durchgemacht hat, verdiente doch, von einer höheren Warte und mit einem verantwortlicheren Pietätsgefühl betrachtet zu werden.
1993
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Meine Schulaufsätze über den Duce
Thema: »Warum vergeßt ihr in euren Nachtgebeten den König, den Duce und das Vaterland nicht?« Ausführung:
»In meinen Gebeten nenne ich den Duce … weil immer Er es ist, der den ersten Spatenstich tut … Er hat den Marsch auf Rom angeführt und die Umstürzler aus Italien vertrie-ben, Er hat das Land mächtig, gefürchtet, schön und groß gemacht.« Von wem stammen diese Sätze, die für den ersten Durchgang der Agonali della Cultura ,der landeswei-ten Kulturwettkämpfe des Jahres XVIII der Faschistischen Ära geschrieben wurden?
Und von wem stammen diese weiteren Sätze, die in den regionalen Ludi Juveniles des Jahres XX (1942) prämiert worden sind? »Da rückt auf der staubigen Straße eine Ko-lonne von Kindern vor. Es sind die Ballila* ,die stolz und frohgemut in der milden Sonne des aufbrechenden Frühlings marschieren, diszipliniert und gehorsam gegenüber den trockenen Kommandos ihres Offiziers … Es sind Jungen, die mit zwanzig die Feder mit dem Karabiner vertau-schen werden, um Italien gegen die feindlichen Anschläge zu verteidigen. Jene Ballila, die man samstags durch die Straßen ziehen sieht … werden im rechten Alter zu treuen, unkorrumpierbaren Wächtern Italiens und seiner neuen Kultur … Wer stellt sich beim Anblick dieser Jungen vor, daß sie vielleicht in wenigen Jahren auf dem Schlachtfeld sterben können, mit dem Namen Italiens auf den Lippen?
Immer war mein Gedanke: Wenn ich einmal groß bin,
werde ich Soldat … Ich werde kämpfen, und wenn Italien
* Die faschistische Jugendorganisation, ähnlich der Hitlerjugend (A. d. Ü.).
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es will, werde ich sterben für seine neue, heroische, heilige Kultur … Und mit der belebenden Erinnerung an die ver-gangenen Ruhmestaten, mit den Ergebnissen der gegen-wärtigen und mit der Hoffnung auf die zukünftigen, voll-bracht von den Ballila, die heute noch Kinder und morgen Soldaten sind, geht Italien weiter seinen glorreichen Gang der geflügelten Siegesgöttin entgegen …«
Nun erwartet jeder die maliziöse Enthüllung: Der Autor dieser Zeilen ist der Schwarze Ritter. Falsch. Der Autor dieser Zeilen bin ich, im Alter von acht beziehungsweise zehn Jahren.
Tatsächlich habe ich noch in Erinnerung, wie ich mich beim Schreiben fragte, ob man mir wohl glauben würde.
Ich erinnere mich, daß ich mir die Frage vorlegte: »Aber liebe ich den Duce wahrhaftig? Wieso erwähne ich ihn dann nicht wirklich in meinen Gebeten? Bin ich vielleicht ein verlogenes und gefühlloses Kind?« Trotzdem habe ich diese Aufsätze geschrieben, und nicht aus Zynismus, sondern weil Kinder von Natur aus kleine Luder sind. Sie machen Lausbübereien, aber sie übernehmen die hehren Prinzipien, die ihnen die Umwelt
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