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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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denke?«
    »Denkst du an sie?«
    »Tust du das?«
    »O ja.«
    »Und was denkst du?«
    Sie hatte nicht vorgehabt, ihn zum Inquisitor werden zu lassen, aber er hatte die Dinge umgekehrt, und jetzt stand sie vor Gericht. Das überraschte sie nicht.
    »Ich denke … sechsundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit dafür, dass die Dinge so waren, wie sie waren.«
    »Für uns?«
    »Für uns. Für alle. Aber am meisten für sie.«
    »Wie kannst du das wissen?«
    »Kann ich nicht. Das kann niemand. Doch die Last des Daseins … selbst des Bewusstseins … muss fast unerträglich für sie gewesen sein.«
    »Das werden wir nie wissen.«
    »Nein.«
    »Als du mich gefragt hast, was ich denke …«
    »Vielleicht meinte ich … empfinde. Was empfindest du jetzt?«
    Er starrte auf die Tasse und Untertasse vor sich auf dem niedrigen Tisch, den Kopf gebeugt, die Hände zusammengelegt zwischen den Knien. Sie versuchte sich zu erinnern, wie er ausgesehen hatte, als er in Simons Alter war … und jünger als Simon, aber die beiden waren körperlich so unähnlich, bis auf eine abschätzige Geste, die sie gemeinsam hatten, und die Art, sich nach außen abzuschotten, dass ein Vergleich schwierig war. Simon war gutaussehend.
    Und Richard? Sah er noch gut aus? Sein Gesicht hatte so lange die Maske des Sarkasmus und der Missbilligung getragen, dass es sich für immer verändert hatte. War er je ein sanfter Mann gewesen? Mit Martha. Ja, und auch mit Cat, als sie klein war. Nie mit den Jungs, und vor allem nie mit Simon.
    »Ich empfinde Qual«, sagte Richard Serrailler. »Ich empfinde bitteres Bedauern und eine bittere, bittere Hilflosigkeit. Was tun wir?« Er hob den Kopf, und sie sah, dass Tränen in seinen Augen glänzten. »Was tun wir heute, in der Medizin, mit unserem rücksichtslosen Verlangen, Leben um jeden Preis zu erhalten und zu verlängern? Warum beharren wir darauf, dass jedes Leben, jedes Anzeichen von Atem und Bewusstsein, das Beste ist, um das wir uns mit aller Kraft bemühen müssen? Warum können wir alte Menschen nicht sterben lassen, wenn sie es sollten? Wie haben wir Lungenentzündung während unserer Ausbildung genannt? Den Freund des alten Mannes. Nicht mehr. So etwas gibt es heutzutage nicht mehr. Die Lungenentzündung hätte schon vor Jahren ihr Freund werden sollen.«
    Hör auf, sagte sie sich, hör jetzt auf. Gib dem Gespräch eine andere Richtung, oder steh auf, verlass das Zimmer, geh ins Bett. Es besteht keine Notwendigkeit. Hör auf. Du musst es weiterhin alleine tragen. Du kannst das nicht.
    »Es gibt etwas, das ich dir erzählen muss«, sagte sie.
    Die Stille im Zimmer war so groß, dass Meriel sich fragte, ob sie beide zu atmen aufgehört hatten. Richard wartete. Hundert Jahre vergingen.
    »Derek Wix glaubt, dass die letzte Thoraxinfektion und Lungenentzündung ihre angeborene Herzschwäche verstärkt haben«, sagte sie schließlich. »Er hat Herzversagen als Todesursache angegeben.« Sie wartete. Nichts. Er reagierte nicht. »Was es natürlich war. Ich habe dafür gesorgt, dass ihr Herz zu schlagen aufhörte. Ich habe sie getötet.«
    Sie wollte seine Hilfe, wusste aber, dass er ihr nicht helfen würde, dass sie es allein bis zum Ende durchstehen und ihm alles erzählen musste, kein einziges Detail auslassen durfte. Ihre Kehle war trocken, aber sie konnte sich nicht bewegen, um sich etwas zu trinken einzuschenken, nicht, bis es vorbei war.
    »Sie schlief. Ich bin an dem Abend noch spät zu ihr gefahren – nach zehn. Ich war bei der Chorprobe, und danach bin ich zur Ivy Lodge gefahren. Das Zimmer war sehr friedvoll. Sie war friedvoll. Sie hatte keine Ahnung, dass ich da war. Ich habe ihr Kalium gespritzt. Ihr Herz hörte natürlich sofort auf zu schlagen, aber es war, als schliefe sie einfach weiter. Ich küsste sie und blieb noch einen Moment bei ihr sitzen, und ich verabschiedete mich von ihr. Dann bin ich nach Hause gefahren.«
    Sie spürte, wie aller Atem ihren Körper verließ, fühlte sich schwach, aber auch von aller Anspannung und Qual befreit. Sie zitterte, zitterte am ganzen Körper.
    »Mehr gibt es nicht zu erzählen, Richard«, sagte sie.
     
    Wie lange das Schweigen danach andauerte, hätte sie nicht sagen können. Sie lehnte den Kopf an die Sessellehne und schloss die Augen. Hinter ihren Augenlidern sah sie Martha in friedlichem Schlaf.
    Einige Zeit später stand Richard auf, ging an den Getränkeschrank und schenkte zwei Gläser Whisky ein. Das eine reichte er ihr ohne ein Wort, worauf sie

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