Des Abends eisige Stille
furchtsam zu ihm aufschaute. Sein Gesicht war starr, leicht gerötet.
Er wich ihrem Blick aus.
Als er schließlich sprach, klang seine Stimme seltsam, wie erstickt oder voll unterdrückter Tränen. »Ich finde es schwer zu glauben, dass du das getan hast.«
»Ich habe es getan.«
»Du hast sie ausgetragen und geboren.«
»Ich glaube, das war der Grund. Letztlich. Ich habe sie geliebt.«
»Wirklich?«
Eine Sekunde lang schauten sie sich an.
»Natürlich habe ich sie geliebt. Wie kannst du je daran gezweifelt haben. Ich habe sie genauso geliebt wie du.«
»Ach ja?« Er trank einen Schluck von seinem Whisky.
»Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie gedacht habe, weißt du.«
»Daran, sie zu töten?«
Sie zuckte zusammen, sagte aber: »Bitte erzähl mir nicht, dass es dir nie in den Sinn gekommen wäre. Jedes Mal, wenn sie wieder eine Bronchitis, wieder eine Lungenentzündung bekam, hast du gesagt, sie sollte jetzt sterben.«
»Ja.«
»Ist das so anders?«
»Falls du meinst, ob das Endergebnis dasselbe ist …«
»Ich meine … Du hast gewünscht, dass sie stirbt. Ich habe es mir gewünscht. Aber sie ist nicht gestorben, und daher habe ich ihr das Leben genommen. Und sie hat nichts davon gemerkt, und sie ist – frei. Was auch immer das bedeutet, ja, sie ist frei. Ich habe sie befreit. Sie war in einem entsetzlichen Gefängnis eingesperrt, und ich habe sie freigelassen. Nur so kann ich es sehen.«
»Du empfindest keine Schuld? Hast es einfach weggeschoben?«
»Es ist mir seitdem in jeder einzelnen Minute präsent. Aber ich empfinde keine Schuld. Nein.«
»Ich hätte niemals …«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Mein Gott, glaubst du, ich könnte einen Mord begehen?«
Mord. Das Wort klang eigentümlich in diesem Zimmer, wie ein Wort aus einer fremden Sprache, das nicht hierherpasste. Es ängstigte oder alarmierte sie nicht. Sie verstand es nur nicht und lehnte es dann, nach einem Moment, als irrelevant ab.
»Es war kein Mord … Wie immer du es auch nennen willst, das war es nicht.«
»Tötung.«
»Ja.«
»Warum diese Haarspalterei?«
»Weil es wichtig ist.«
»Unsere Tochter war wichtig.«
Er hatte seinen Whisky ausgetrunken. Sie hatte ihren nicht angerührt. Er drehte das leere Glas zwischen den Fingern. Dann stand er auf, trat zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß es jetzt. Und nun muss einer von uns es Simon sagen.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Weil er Simon ist oder weil er bei der Polizei ist?«
»Beides. Er fühlte sich ihr näher als sonst jemand von uns. Diese seltsame Art, in der er mit ihr sprach, ihr etwas vorsang, als er ein Junge war, weißt du noch? Wie oft er sie besucht und bei ihr gesessen hat … Es würde ihn vernichten.«
»Trotzdem, er ist Polizist.«
»Du glaubst, ich muss es ihm erzählen? All das auf unser Haupt laden?«
»Auf deins.«
»Ich spreche nicht von Schmach und Schande, und außerdem würde niemand so reagieren, niemand. Ich meine eine Anklage und einen Prozess, die Zeitungen, und für was? ›Wieder einmal leistet ein Arzt Sterbehilfe‹ … Es geschieht dauernd, das wissen wir beide. Jeder Arzt weiß das.«
»Früher hat man uns vertraut. Jetzt nicht mehr. Ärzte werden verdächtigt … seit Shipman und den Fällen in Holland.«
»Ein Grund mehr. Aber ich habe es nicht als Ärztin getan. Ich habe ihr ein friedliches Ende bereitet, weil ich ihre Mutter bin. Wenn mir mein ärztliches Wissen den richtigen Weg gezeigt hat – dann ist das reiner Zufall.«
»Du wirst keine Ruhe mehr haben, bevor du es jemandem erzählt hast.«
»Ich habe es dir erzählt.«
»Ich wünschte, du hättest es nicht getan«, brüllte Richard Serrailler, und dabei schossen ihm Tränen der Qual und des Zorns in die Augen. »Ich wünschte bei Gott, ich wüsste es nicht.«
Sie schlief sofort ein und fiel in einen traumlosen Schlaf, wachte aber voller Furcht auf, mit hämmerndem Herzen und Schweiß, der ihr zwischen den Brüsten hinunterlief. Richard hatte sich in seinem Bett von ihr weggedreht, lag auf der Seite.
Nach einem Augenblick stand sie leise auf, ging ins Bad und duschte warm. Sie zögerte auf dem Flur, kehrte dann jedoch ins Schlafzimmer zurück. Richard hatte sich nicht bewegt. Sie zog die Vorhänge ein Stück auf. Draußen war es ruhig, der Mond hell und drei viertel voll, sein Licht geisterhaft auf den ersten Blüten des Pfirsichbaums. Sie zog den Korbstuhl von ihrem Frisiertisch ans Fenster, setzte sich und schaute
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