Des Abends eisige Stille
sie lebendig.
Sie öffnete den Kühlschrank und nahm einen Milchkarton heraus.
Die Obstschale war leer, bis auf zwei Walnüsse und einen kleinen, verschrumpelten Apfel. Davor war sie immer voll mit Orangen, Pfirsichen, Pflaumen, einer Ananas, Kiwis, Bananen gewesen. Davor.
Sie holte sich ein neues Päckchen Kekse, schlitzte es auf und setzte sich an den Tisch. Der Kühlschrank summte.
Was als Nächstes passierte, überraschte sie. Die heutige Nacht unterschied sich in nichts von allen anderen Nächten. Sie kam oft hier herunter. Nichts hatte sich verändert. Sie fühlte sich noch genauso. Alles sah unverändert aus. Aber plötzlich hatte sie alles im Kopf, klar, eindeutig und komplett. Sie musste nicht darüber nachdenken oder sich langsam herantasten. Es war da, für sie ausgearbeitet. Geplant.
Sie stand auf, öffnete die Tür zum Abstellraum und dort die Tür nach draußen. Sie schob den Riegel zurück, der sich glatt und ohne jedes Geräusch bewegen ließ. Auch der Schlüssel drehte sich leicht. Sie ging hinaus.
Es war nicht kalt. Der Mond schien sehr hell. Aus dem Nachbarhaus war leise Musik zu hören. Irgendwo hinter den Gärten bellte ein Hund.
Sie schaute zum Tor am Ende der Einfahrt.
Da. Der Weg. Die Hecke. Der Torpfosten.
Da.
Da war er gewesen, und dann war er nicht mehr da.
Sie versuchte ihn sich vorzustellen. Da. Nicht da.
Das machte sie fast jede Nacht. Die einzige Veränderung war das, was vor ein paar Minuten in ihrem Kopf passiert war.
Auf der Straße fuhr ein Auto in hoher Geschwindigkeit vorbei. Die Scheinwerfer huschten über den Torpfosten.
Wieder bellte der Hund.
Sie schlüpfte zurück ins Haus, und ihr Kopf war voll, und alles war ihr plötzlich klar. Das Mondlicht war wie ein Teich, durch den sie auf ihrem Weg nach oben glitt.
[home]
56
S imon Serrailler lehnte sich mit seinem Stuhl zurück, bis er beinahe umkippte. Es war fast acht.
»Genug. Sollen wir was essen gehen?«
Jim Chapman und er hatten den ganzen Nachmittag durchgearbeitet, Überlegungen angestellt, alle Aspekte des Falles auseinandergepflückt. Jim hatte sich von Anfang an eingepasst, ein von außen gekommener Revisor und doch auch einer von ihnen und Teil des Teams. Der DCS hatte ein Geschick dafür, unvoreingenommen vorzugehen, auf dieses oder jenes hinzuweisen, Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das man anders hätte machen können, während er Serrailler und den anderen gleichzeitig das beruhigende Gefühl gab, einer der Ihren zu sein.
Er sagte: »Gut, mir wäre nach einem Pint und einer anständigen Mahlzeit. Was schlagen Sie vor?«
Es kann genauso gut jetzt sein, dachte Simon. Zum letzten Mal war er mit Freya bei seinem Lieblingsitaliener gewesen, hatte sie angeschaut und sich gefragt, ob er nicht nur eine fähige neue Kollegin gefunden hätte, sondern …
»Italienisch?«
»Wenn’s da vernünftige Spaghetti gibt.«
»Kann Pavarotti singen? Kommen Sie.«
Er hätte keine andere Frau dorthin ausführen wollen, war aber so gut mit diesem geradlinigen DCS aus Yorkshire ausgekommen, dass er sich entspannt genug fühlte, mit ihm hinzugehen und die unglücklichen Erinnerungen zu vertreiben – die Dämonen, dachte er.
Chapmans Auto stand im Hof neben dem von Simon. »Eine Flasche Wein?«
»Aye, wenn wir uns erst mal zwei Pints genehmigen können.«
»Dann gehen wir besser zu Fuß. Ich wohne nicht weit vom Restaurant entfernt, und Ihr Hotel ist auch ganz in der Nähe. Falls es Ihnen nichts ausmacht, morgen zu Fuß hierherzukommen, können wir heute Abend beide etwas trinken.«
»Ist mir recht. Mein Gepäck hab ich schon heute Morgen im Hotel abgestellt.«
Sie gingen durch den milden Frühlingsabend. Die Straßen waren still, bis sie auf den Marktplatz kamen, wo Leute zu Pubs oder Pizzerien unterwegs waren, allerdings nicht allzu viele, da es mitten in der Woche war.
Ein paar Jugendliche machten Bocksprünge über zwei Poller.
»Gibt’s viel Ärger?«, fragte Chapman.
»Das Übliche – zu viel Alkohol freitags und samstags abends. Ansonsten können wir uns nicht beschweren.«
»Sie hatten diese hässliche Mordserie.«
»Ja … und wir haben eine Beamtin verloren, wie Sie wahrscheinlich wissen.«
»So was ist immer schwierig. Und jetzt das.«
»Mehr, als wir verdient haben, würde ich sagen. Wir sind da.«
Der Besitzer kam und schüttelte Simon die Hand.
»Wir haben Sie vermisst, Mr. Serrailler … Sie waren lange nicht bei uns.«
»Das ist ein Kollege von mir, DCS Chapman. Er kommt
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