Des Teufels Kardinal
stieß zurück und hielt neben der Rangierlok.
Zwei Sanitäter und ein Notarzt rannten zu Elena, die neben Herkules kniete. Der Zwerg wurde sofort an einen Tropf angeschlossen, auf die Krankentrage gelegt und in den Wagen geschoben, der mit Sirenengeheul durch das Heer aus Vatikansoldaten davonfuhr.
Während Harry ihm nachsah, war ihm zumute, als werde ein Teil seiner selbst abtransportiert. Als er sich abwandte, sah er, daß Danny ihn beobachtete. Dannys Blick sagte ihm, daß sie beide das gleiche empfunden hatten: das Deja-vu-Gefühl, daß ein geliebter Mensch in einen Krankenwagen geladen und weggefahren wurde, während sie hilflos dabeistanden. Jener schreckliche Sonntag, an dem der Feuerwehrkommandant die in eine Decke gehüllte Leiche ihrer Schwester in einen Krankenwagen gelegt hatte, der mit ihr in die eisige Dunkelheit davongefahren war, lag fünfundzwanzig Jahre zurück. Der einzige Unterschied war die Tatsache, daß Herkules noch lebte.
Harry bemerkte plötzlich, daß er Elena vergessen hatte. Als er sich umdrehte, sah er, daß sie allein neben der Rangierlok stand und Danny und ihn beobachtete, ohne sich um die vielen Soldaten um sie herum zu kümmern. Sie schien zu begreifen, daß zwischen den beiden Brüdern etwas sehr Wichtiges vorging, wollte gern daran beteiligt sein und zögerte trotzdem fast ängstlich davor, sich einzumi-schen. In diesem Augenblick liebte Harry sie mehr, als er jemals einen Menschen geliebt hatte.
Er ging zu Elena, ohne im geringsten bewußt darüber nachzudenken. Und vor Danny und der Masse aus gesichtslosen blauen Hemden, von denen sie umgeben waren, küßte er sie, sanft und mit aller Liebe und Zärtlichkeit, zu der er imstande war.
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An diesem Nachmittag saßen Harry, Elena und Danny bis in den Abend hinein in einem kleinen Wartezimmer im Krankenhaus San Giovanni. Harry hielt Elenas Hand in seiner, während seine Gedanken zwanghaft von einem Thema zum nächsten sprangen. Hauptsächlich versuchte er jedoch, nichts zu denken. Nicht an die Menschen, die er oder andere erschossen hatten. Nicht an Eaton, nicht einmal an Thomas Kind. Und vor allem nicht an Adrianna… In ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er gespürt, daß Adrianna Angst vor dem Sterben hatte. Aber alles, was sie tat, jede Story, über die sie berichtete, schien irgendwie mit dem Tod zu tun zu haben, von krie-gerischen Auseinandersetzungen in Kroatien über Bürgerkriege und Flüchtlingsströme in Afrika bis hin zur Ermordung des Kardinalvikars von Rom. Was hatte sie ihm erklärt? Wenn sie Kinder hätte, könnte sie dieses Leben niemals führen. Aber vielleicht hatte sie sich welche gewünscht und nur nicht gewußt, wie sie Beruf und Familie vereinen konnte. Sie konnte nicht beides haben, deshalb hatte sie sich für das entschieden, was ihr ein erfüllteres Leben zu garantieren schien und wohl auch garantiert hatte. Bis es sie umgebracht hatte.
Kurz vor sieben Uhr abends gesellte Kardinal Marsciano sich zu ihnen. Und eine Stunde später ließ sich Roscani, der blaß und ange-griffen in einem Rollstuhl saß, von einem Krankenpfleger aus seinem Zimmer in einem anderen Flügel des Krankenhauses herüberbringen.
Um einundzwanzig Uhr fünfundfünfzig ging die Tür des Wartezimmers auf, und ein Chirurg, der noch Handschuhe und seine her-abgestreifte Gesichtsmaske trug, kam herein.
»Er kommt durch«, sagte er auf italienisch. »Herkules wird überleben.«
Harry brauchte keinen Dolmetscher. Er wußte sofort, was der Chirurg gesagt hatte.
»Grazie«, sagte er und sprang auf. »Mille grazie!«
»Prego.« Der Chirurg erklärte ihnen noch, sie würden auf dem laufenden gehalten, dann nickte er, verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich.
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Das nun folgende tiefe Schweigen ließ keinen von ihnen unberührt.
Daß der Zwerg aus dem römischen Untergrund überleben würde, war ein Lichtblick zum Abschluß einer langen, schwierigen Reise, die sie gemeinsam hinter sich gebracht hatten. Daß sie nun zu Ende war, mußte ihnen allen erst richtig bewußt werden. Aber sie war vorüber, und die Aufarbeitung hatte bereits begonnen.
Jakow Farel hatte blitzartig die Initiative ergriffen und war um Schadensbegrenzung bemüht, um den Heiligen Stuhl und vor allem auch sich selbst zu schützen. Der Chef der Vatikanpolizei berief innerhalb weniger Stunden eine Pressekonferenz ein, die vom italienischen Fernsehen live übertragen wurde. Vor den Medienvertretern gab er bekannt, der berüchtigte südamerikanische
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