Des Todes Dunkler Bruder
weiterer Seufzer, »… egal. Ich muss mit dir reden. Mir ist klar geworden … ich meine … oh, zum Teufel. Könntest du, äh, mich anrufen? Falls … du weißt schon.«
Ich wusste nicht. Überhaupt nichts. Ich wusste nicht einmal genau, wer sprach. Konnte das wirklich Rita sein? Wieder ein tiefer Seufzer. »Es tut mir Leid, falls –« Eine sehr lange Pause. Zwei Atemzüge. Tief ein, aus. Tief ein, dann abruptes Ausatmen. »Bitte ruf mich an, Dexter. Nur –« Lange Pause. Ein weiterer Seufzer. Dann legte sie auf.
Ich habe häufig im Leben das Gefühl gehabt, mir fehle etwas, ein entscheidendes Stück des Puzzles, das jeder andere gedankenlos mit sich herumträgt. Gewöhnlich stört mich das nicht, zumal es sich meistens als ein erstaunlich unnötiges Stück Menschsein herausstellt, wie zum Beispiel die Abseitsregel beim Fußball zu verstehen oder bei der ersten Verabredung nicht gleich aufs Ganze zu gehen.
Aber bei anderen Gelegenheiten habe ich das Gefühl, von einem großen Reservoir wohltuender Weisheit ausgeschlossen zu sein, einem überlieferten Sinn, den ich nicht besitze, den Menschen so tief in sich spüren, dass sie nicht darüber reden, ihn nicht einmal in Worte fassen können.
Dies war eine jener Gelegenheiten.
Mir war bewusst, dass Rita eigentlich etwas ganz Bestimmtes ausdrücken wollte, dass ihre Pausen und ihr Gestotter eine großartige, wundervolle Sache zusammenfassten, die ein menschlicher Mann intuitiv begreifen würde. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, worum es sich dabei handeln mochte, noch wie ich dahinter kommen konnte. Musste ich die Atemzüge zählen? Die Länge der Pausen messen, das Ergebnis in Bibelverse umrechnen und so den geheimen Code entschlüsseln? Was versuchte sie mir zu sagen? Und warum versuchte sie eigentlich überhaupt, mir etwas zu sagen? Wie ich die Dinge sah, hatte ich, indem ich Rita aus einem befremdlichen und blödsinnigen Impuls heraus küsste, eine Grenze überschritten, die ich nach beiderseitigem Einverständnis nicht hätte überschreiten dürfen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, das konnte man nicht ungeschehen machen. Auf eine gewisse Art war der Kuss ein Akt des Tötens gewesen. Auf jeden Fall war dieser Gedanke sehr tröstlich. Ich hatte unsere vorsichtige Beziehung getötet, indem ich meine Zunge durch ihr Herz trieb und sie von einer Klippe stieß. Bumm, eine tote Angelegenheit. Ich hatte seitdem nicht ein Mal an Rita gedacht. Sie war fort, durch eine unfassbare Laune aus meinem Leben verschwunden.
Und jetzt rief sie mich an und zeichnete ihre Seufzer zu meinem Vergnügen auf.
Warum? Wollte sie mich züchtigen? Mich beschimpfen, mich mit der Nase auf meine Idiotie stoßen, mich zwingen, das Ausmaß meines Übergriffs einzusehen? Das Ganze begann mich über alle Maßen zu verärgern.
Ich lief in meinem Apartment auf und ab. Warum sollte ich über Rita nachdenken müssen? Im Moment hatte ich ganz andere Sorgen. Rita war nur mein falscher Bart, ein albernes Kinderkostüm, das ich an den Wochenenden trug, um die Tatsache zu verbergen, dass ich eine Person war, die ähnliche Dinge tat, wie sie der interessante Kamerad im Augenblick vorführte, ich jedoch nicht.
War das Eifersucht? Mit Sicherheit. Ich tat jene Dinge nicht. Ich hatte gerade erst damit aufgehört. In der nächsten Zeit würde ich sicherlich nichts unternehmen.
Zu riskant. Ich hatte nichts vorbereitet. Und doch …
Ich ging in die Küche und schnippte gegen den Barbiekopf. Fump. Fump-fump. Ich schien etwas dabei zu empfinden. Spielfreude? Tiefe, nagende Sorge? Professionelle Eifersucht? Ich konnte es nicht sagen, und Barbie redete nicht.
Es war einfach zu viel. Das offensichtlich falsche Geständnis, das Eindringen in mein Heiligtum, und jetzt auch noch Rita? Ein Mann kann nur bis zu einer gewissen Grenze einstecken. Selbst ein Heuchler wie ich. Ich begann unruhig zu werden, fühlte mich benommen, verwirrt, gleichzeitig hyperaktiv und lethargisch. Ich trat zum Fenster und sah hinaus. Mittlerweile war es dunkel geworden, weit draußen über dem Wasser stieg ein Licht zum Himmel empor und bei diesem Anblick erhob sich irgendwo tief in meinem Inneren eine leise, böse Stimme.
Mond.
Ein Flüstern in meinem Ohr. Nicht einmal ein Klang; nur die leise Wahrnehmung von jemandem, der deinen Namen ausspricht, fast hörbar, irgendwo in der Nähe.
Sehr nah, vielleicht kommt er näher. Keine Worte, nur ein trockenes, stimmloses Rascheln, ein tonloser Klang, ein gehauchter Gedanke. Mein
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