Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
Vom Netzwerk:
jemand anderem passieren?
    Dieser Traum war anders gewesen, aber ich war mir nicht sicher, was diese Andersartigkeit ausmachte oder was sie bedeutete. Beim letzten Mal war ich absolut sicher gewesen, dass sich ein weiterer Mord ereignen würde und ich hatte sogar gewusst, wo. Aber dieses Mal …
    Ich seufzte und tappte in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Barbies Kopf machte fump, fump, als ich die Kühlschranktür öffnete. Ich stand dort und starrte sie an, während ich ein großes Glas kaltes Wasser trank.
    Die leuchtend blauen Augen starrten unbewegt zurück.
    Warum hatte ich geträumt? War es nur die Anspannung durch die Abenteuer des vergangenen Abends, die mein angeschlagenes Unterbewusstsein noch einmal abspielte? Ich hatte diese Anspannung niemals zuvor empfunden, tatsächlich war es immer eine Befreiung von der Anspannung gewesen. Natürlich war ich auch nie zuvor so knapp einer Katastrophe entronnen. Aber warum davon träumen? Einige der Bilder waren geradezu schmerzhaft offensichtlich: Jaworski und Harry und das unsichtbare Gesicht des Mannes mit dem Messer. Also wirklich. Warum sich mit Psychologie für Anfänger aufhalten?
    Warum sollte mich der Traum überhaupt beschäftigen? Ich brauchte ihn nicht. Ich brauchte Ruhe – und stattdessen stand ich in der Küche und spielte mit einer Barbiepuppe. Ich schnippte wieder gegen den Kopf: fump fump. Und überhaupt, was sollte das mit der Barbie? Und wie sollte ich das alles noch rechtzeitig genug herausfinden, um Deborahs Karriere zu retten? Wie konnte ich LaGuerta ausweichen, wo das arme Ding doch so von mir eingenommen war? Und bei allem was heilig war, wenn es so etwas überhaupt gab, warum hatte Rita mir DAS antun müssen? Plötzlich kam mir alles wie eine verquere Seifenoper vor, und ich hatte genug. Ich fand Aspirin und kaute an der Küchentheke lehnend drei Tabletten. Der Geschmack ließ mich kalt. Ich hatte Arzneien noch nie gemocht und nahm sie nur, wenn es sein musste.
    Besonders seit Harry gestorben war.

16
    H arry starb langsam, und er starb nicht leicht. Er nahm sich schrecklich lange Zeit, die erste und letzte egoistische Handlung seines Lebens. Harry starb anderthalb Jahre lang in kleinen Abschnitten, ein paar Wochen ging es ihm immer schlechter, dann kämpfte er dagegen an, bis er fast wieder seine alte Kraft zurückerobert hatte. Was dazu führte, dass wir ständig beklommen versuchten, die Situation einzuschätzen. Würde er dieses Mal von uns gehen, oder hatte er die Krankheit ein für alle Mal besiegt? Wir wussten es nicht, und da es sich um Harry handelte, schien es uns eine Dummheit aufzugeben. Harry würde immer das Richtige tun, gleichgültig, wie schwer es ihm fiel, aber was hieß das, wenn man starb? War es richtig zu kämpfen und sich durchzubeißen und uns Übrige mit diesem endlosen Sterben zu quälen, wenn der Tod ohnehin kam, egal was Harry tat? Oder war es richtig, in Würde und ohne Gegenwehr hinüberzugleiten?
    Mit neunzehn hatte ich natürlich keine Antwort, obwohl ich bereits mehr über den Tod wusste als die anderen pickligen Blödmänner des zweiten Studienjahrs aus meinen Seminaren an der Universität von Miami. Und eines schönen Nachmittags, als ich nach meinem Chemiekurs über den Campus in Richtung Mensa lief, tauchte Deborah neben mir auf. »Deborah«, rief ich und klang dabei meiner Meinung nach sehr kameradschaftlich, »lass uns eine Cola trinken gehen.« Harry hatte mich angewiesen, häufig in der Mensa herumzuhängen und Coke zu trinken. Er sagte, es würde mir helfen, als menschlich durchzugehen und zu lernen, wie sich andere Menschen verhielten. Und selbstverständlich hatte er Recht. Trotz des Schadens, den meine Zähne nahmen, lernte ich eine Menge über diese unerfreuliche Spezies.
    Deborah, 17 und schon viel zu ernsthaft für ihr Alter, schüttelte den Kopf. »Es geht um Dad«, sagte sie. Und innerhalb kürzester Zeit fuhren wir quer durch die Stadt zu dem Hospiz, das Harry aufgenommen hatte. Hospiz war keine gute Nachricht. Es bedeutete, dass die Ärzte meinten, Harry wäre bereit zu sterben, und ihm nahe gelegt hätten, er solle sich in sein Schicksal fügen.
    Harry sah bei unserem Eintreffen nicht gut aus. Er wirkte so grün und still auf den Laken, dass ich glaubte, wir wären zu spät gekommen. Von seinem langen Kampf war er spindeldürr und ausgezehrt; es schien aller Welt, als fräße sich etwas aus seinem Inneren nach draußen. Das Sauerstoffgerät neben seinem Bett zischte, ein

Weitere Kostenlose Bücher