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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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Darth-Vader-Geräusch aus dem Grab eines Lebenden. Genau genommen lebte Harry noch. »Dad«, sagte Deborah und nahm seine Hand. »Ich habe Dexter mitgebracht.«
    Harry schlug die Augen auf, sein Kopf rollte zu uns herum, beinah als hätte eine unsichtbare Hand ihn von der anderen Seite des Kissens geschoben. Aber es waren nicht Harrys Augen. Es waren verschwommene blaue Löcher, stumpf und leer, unbeseelt. Harrys Körper mochte am Leben sein, aber er war nicht zu Hause.
    »Es sieht nicht gut aus«, berichtete uns die Schwester. »Wir versuchen jetzt, es ihm so angenehm wie möglich zu machen.« Und sie nahm eine große Spritze von einem Tablett, zog sie auf und hielt sie hoch, während sie die Luftblase herausdrückte.
    »… warten …« Es war so leise, dass ich zunächst dachte, es wäre das Sauerstoffgerät. Ich schaute mich im Zimmer um und schließlich fiel mein Blick auf das, was von Harry übrig geblieben war. Hinter der dumpfen Leere in seinen Augen glitzerte ein winziger Funke. »… warten …«, sagte er wieder und wies mit dem Kopf auf die Krankenschwester.
    Entweder hörte sie ihn nicht oder hatte beschlossen ihn zu ignorieren. Sie trat an seine Seite und hob sanft seinen strichdünnen Arm. Sie begann, ihn mit einem Wattebausch abzureiben.
    »… nein …«, keuchte Harry leise, fast unhörbar.
    Ich sah zu Deborah hinüber. Sie schien Habacht zu stehen, in der vollendeten Haltung feierlicher Ungewissheit. Ich sah Harry wieder an. Sein Blick verschränkte sich mit meinem.
    »… nein …«, sagte er, und in seinen Augen lag jetzt ein an Grauen grenzender Ausdruck. »… keine … Spritze …«
    Ich trat einen Schritt vor und hielt die Schwester mit gebieterischer Hand zurück, kurz bevor sie die Nadel in Harrys Vene stach. »Warten Sie«, befahl ich. Sie sah mich an, und für einen Sekundenbruchteil erschien etwas in ihrem Blick. Ich wäre vor Überraschung beinah rückwärts gestolpert. Es war kalte Wut, ein unmenschliches, eidechsenhaftes Ich-will, die Überzeugung, dass die Welt ihr ganz persönliches Jagdrevier war. Nur ein Aufblitzen, aber ich war sicher. Sie hätte mir die Nadel am liebsten ins Auge gerammt, weil ich sie unterbrochen hatte. Sie wollte sie in meine Brust jagen und drehen, bis meine Rippen brachen und mein Herz in ihre Hände platzte, sie das Leben aus mir quetschen, drehen, reißen konnte. Dies war ein Ungeheuer, ein Jäger, ein Mörder.
    Dies war ein Raubtier, ein seelenloses, böses Ding.
    Genau wie ich.
    Aber ihr Veggi-Lächeln kehrte umgehend zurück. »Was ist denn, Schätzchen?«, fragte sie, immer liebenswürdig, die perfekte Letzte Pflegerin.
    Meine Zunge fühlte sich viel zu groß an, und bis zu meiner Antwort schienen Minuten zu vergehen, aber schließlich schaffte ich es und sagte: »Er will keine Spritze.«
    Sie lächelte wieder, ein wunderbares Lächeln, es lag auf ihrem Gesicht wie der Segen eines allwissenden Gottes.
    »Ihr Vater ist sehr krank«, sagte sie. »Er hat starke Schmerzen.« Sie hielt die Spritze hoch, und vom Fenster her traf ein melodramatischer Lichtstrahl darauf. Die Nadel glitzerte wie ihr höchstpersönlicher Heiliger Gral.
    »Er braucht eine Spritze«, sagte sie.
    »Er will sie nicht«, erwiderte ich.
    »Er hat Schmerzen«, sagte sie.
    Harry sagte etwas, das ich nicht hören konnte. Mein Blick war auf die Schwester gerichtet und ihrer auf mich, zwei Ungeheuer, die über derselben Beute lauerten. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, beugte ich mich zu ihm hinunter.
    »… ICH … WILL … Schmerzen …«, sagte Harry.
    Mein Blick löste sich abrupt, und ich starrte zu ihm hinunter. Hinter den vorstehenden Knochen, geborgen unter dem Bürstenschnitt, der plötzlich zu groß für seinen Kopf schien, war Harry zurückgekehrt und kämpfte sich durch den Nebel nach oben. Er nickte mir zu, griff mühsam nach meiner Hand und drückte sie.
    Ich sah wieder die Schwester an: »Er will die Schmerzen«, versicherte ich ihr, und irgendwo hinter ihrem Stirnrunzeln und dem verdrießlichen Kopfschütteln hörte ich das Röhren des wilden Tiers, das zusieht, wie seine Beute durch ein Schlupfloch entkommt.
    »Das muss ich dem Doktor melden«, sagte sie.
    »In Ordnung«, versicherte ich ihr. »Wir warten hier.«
    Ich sah ihr hinterher, während sie wie ein großer, todbringender Vogel in den Flur hinaussegelte. Ich spürte einen Druck an meiner Hand. Harry beobachtete mich beim Beobachten der Letzten Pflegerin.
    »Du … weißt Bescheid …«, sagte Harry.
    »Über die

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