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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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Gebäude hoch – momentan glücklicherweise am anderen Ende.
    Was hatte er gehört? Drehte er einfach seine reguläre Runde? Hoffentlich. Falls er wirklich etwas gehört hatte – falls er draußen blieb und um Hilfe rief, würde ich vermutlich ertappt werden. Und obwohl ich gerissen war und eine geschmeidige Zunge besaß, war ich mit Sicherheit nicht gut genug, um mich aus dieser Situation herauszureden.
    Der junge Wächter strich mit dem Daumen über seinen Schnurrbart, als wollte er ihn zu vollerem Wachstum ermuntern. Stirnrunzelnd ließ er seinen Blick über die Gebäudefront gleiten. Ich duckte mich. Als ich einen Moment später wieder hinausspähte, konnte ich gerade noch seinen Scheitel sehen. Er kam herein.
    Ich wartete, bis ich seine Schritte im Treppenhaus hörte.
    Dann schwang ich mich aus dem Fenster, hing an den Fingerspitzen am rauen Zement des Fenstersimses zwischen zweitem und erstem Stock, dann ließ ich mich fallen. Mit meinem schnellsten Humpelschritt verschwand ich im Schatten und hastete zu meinem Auto.
    Mein Herz raste, als ich mich endlich auf den Fahrersitz fallen ließ. Ich schaute zurück, konnte aber kein Anzeichen des Wächters entdecken. Ich ließ den Motor an und fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern so schnell und leise, wie ich konnte, davon, auf die Old Cutler Road, in Richtung South Miami und dann auf einem Umweg über den Dixie Highway nach Hause. Mein Pulsschlag dröhnte noch immer in meinen Ohren. Wie dumm, so ein Risiko einzugehen. Ich hatte nie zuvor etwas ähnlich Impulsives getan, niemals zuvor irgendetwas ohne sorgfältige Planung unternommen. Das war Harrys Vorgehensweise: Sei vorsichtig, setz dich keiner Gefahr aus, sei vorbereitet. Die Finsteren Pfadfinder.
    Und jetzt das. Ich hätte geschnappt werden können. Ich hätte gesehen werden können. Blöd, blöd – ich hätte den jungen Sicherheitsmann vielleicht töten müssen, wenn ich ihn nicht rechtzeitig gehört hätte. Die brutale Ermordung eines Unschuldigen; ich war ziemlich sicher, dass Harry das nicht gebilligt hätte. Außerdem war es so unsauber und unappetitlich.
    Natürlich befand ich mich noch nicht in Sicherheit – der Wächter konnte sich mit Leichtigkeit meine Nummer notiert haben, falls er mit seinem Elektroauto an meinem Wagen vorbeigekommen war. Ich war hirnlose, erschreckende Risiken eingegangen, hatte gegen alle meine vorsichtigen Verfahrensweisen verstoßen, mein ganzes, sorgfältig aufgebautes Leben aufs Spiel gesetzt – und wofür? Für einen Mordkitzel? Schande über mich.
    Und tief in einem schattigen Winkel meines Verstands hörte ich ein Echo, o ja, Schande, und das vertraute Glucksen.
    Ich holte tief Luft und musterte meine Hand auf dem Lenkrad. Dennoch war es aufregend gewesen, oder? Wild und aufregend, voller Leben und neuer Empfindungen und zutiefst frustrierend. Vollkommen neu und interessant. Und dann dieses seltsame Gefühl, dass alles irgendwo hinführte, an einen bedeutenden Ort, der unbekannt und doch vertraut war – beim nächsten Mal musste ich mich wirklich gründlicher damit befassen.
    Aber natürlich würde es kein nächstes Mal geben. So etwas Idiotisches und Impulsives würde ich mit Sicherheit nie wieder tun. Aber es einmal gewagt zu haben – nicht schlecht.
    Egal. Ich würde nach Hause fahren, außergewöhnlich ausgiebig duschen, und wenn ich fertig war … Die Uhrzeit. Unverlangt und ungebeten drängte sie sich in meinen Verstand. Ich hatte mich mit Rita verabredet und zwar – genau jetzt, wenn die Uhr am Armaturenbrett nicht log. Und aus welchem finsteren Grund? Ich konnte nicht wissen, was im weiblichen Verstand vor sich ging. Warum musste ich zu einem solchen Zeitpunkt überhaupt über das Warum nachdenken, wenn mir die Nerven durchbrannten und vor Frustration jodelten. Mir war egal, weswegen mich Rita anschreien wollte. Was für spitze Bemerkungen sie auch immer über meine charakterlichen Schwächen machen würde, sie würden mich nicht weiter stören, aber es war ärgerlich, zum Zuhören gezwungen zu sein, wenn es andere, weit bedeutendere Dinge gab, über die ich nachdenken musste. Ganz besonders wollte ich darüber nachgrübeln, was ich mit dem lieben verschiedenen Jaworski hätte tun können, aber unterlassen hatte. Bis zu dem grausam unterbrochenen, unvollendeten Höhepunkt waren so viele neue Dinge geschehen, die meine volle Aufmerksamkeit erforderten. Ich musste nachdenken, sie betrachten und begreifen, wohin mich all das geführt hatte. Und welcher Bezug zu

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