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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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weinen begonnen hatte.
    Ich starrte sie einen Moment lang an, während ich versuchte, die Bilder eines gehäuteten und blutleeren Hausmeisters zu unterdrücken. Selbst um den Preis meines Lebens hätte ich nicht sagen können, warum sie weinte, aber da ich lange und hart an der Imitation menschlicher Wesen gearbeitet hatte, wusste ich, dass von mir erwartet wurde, sie zu trösten. Ich lehnte mich zu ihr hinüber und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Rita«, sagte ich. »Schon gut, schon gut.« Kein Vers, der meiner würdig war, aber viele Experten halten ihn für äußerst effektiv. Und er war effektiv. Rita warf sich herum und schmiegte ihr Gesicht an meine Brust. Ich schlang den Arm fester um sie, wodurch meine Hand wieder in mein Blickfeld geriet. Weniger als eine Stunde zuvor hatte diese Hand ein Filetiermesser über den kleinen Hausmeister gehalten. Bei dieser Vorstellung wurde mir ganz schwindelig.
    Und ehrlich, ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber passiert ist es. In einem Moment tätschelte ich sie noch, murmelte »Schon gut, schon gut« und starrte auf die Sehnen meiner Hand, spürte die Erinnerung durch meine Finger pulsieren, die Welle der Macht und die strahlende Helligkeit, als das Messer Jaworskis Magen erforschte. Und im nächsten Moment … Ich glaube, Rita sah zu mir hoch. Und vernünftiger-weise muss ich davon ausgehen, dass ich den Blick erwiderte.
    Und doch war es irgendwie nicht Rita, die ich sah, sondern einen sauberen Stapel kühler, blutleerer Glieder.
    Und es waren nicht Ritas Hände, die ich an meiner Gürtelschnalle spürte, sondern der anschwellende unbefriedigte Gesang des Dunklen Passagiers. Und ein wenig später …
    Nun. Es ist nach wie vor irgendwie undenkbar. Ich meine, direkt dort auf dem Sofa.
    Wie um Himmels willen ist das passiert?
    Als ich endlich in mein kleines Bett kroch, war ich vollkommen fertig. Gewöhnlich brauche ich nicht besonders viel Schlaf, aber in dieser Nacht war mir nach soliden sechsunddreißig Stunden. Die Höhen und Tiefen des Abends, die Belastung durch so viele neue Erfahrungen, das alles hatte mich ausgelaugt. Natürlich nicht so ausgelaugt wie Jaworski, das eklige, feuchte, kleine Ding, aber meinen Monatsvorrat an Adrenalin hatte ich an diesem einen stürmischen Abend verbraucht. Ich konnte nicht einmal beginnen, darüber nachzudenken, was das alles bedeutete, angefangen bei dem befremdlichen Impuls, wild und schnell hinaus in die Nacht zu fliegen bis hin zu dem undenkbaren Vorfall mit Rita.
    Ich ließ sie schlafend und anscheinend wesentlich glücklicher zurück. Aber wieder einmal war der arme, düstere, derangierte Dexter völlig ratlos, und ich schlief praktisch in dem Moment ein, in dem mein Kopf das Kissen berührte.
    … und war über der Stadt wie ein knochenloser Vogel, schwebend und geschmeidig, und die kühle Luft wirbelte um mich herum und trieb mich voran, zog mich hinab, dorthin, wo das Mondlicht sich auf dem Wasser kräuselte, und ich sause in den engen kalten Mordraum, wo der kleine Hausmeister aufschaut und lacht, mit ausgebreiteten Armen unter dem Messer liegt und lacht, und von dieser Anstrengung verzieht sich sein Gesicht, es verwandelt sich, und jetzt ist er nicht mehr Jaworski, sondern eine Frau, und der Mann, der das Messer hält, schaut auf, dorthin, wo ich über den gewundenen roten Eingeweiden schwebe, und während sich ein Gesicht formt, kann ich Harry jenseits der Tür hören, und ich wende mich ab, bevor ich sehen kann, wer dort auf dem Tisch liegt, aber …
    Ich erwachte. Der Schmerz in meinem Schädel konnte eine Melone spalten. Ich hatte das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, aber der Wecker neben dem Bett zeigte 5:14 Uhr.
    Ein weiterer Traum. Ein weiteres Ferngespräch von meiner Phantom-Partyhotline. Kein Wunder, dass ich mich fast mein ganzes Leben hartnäckig geweigert hatte zu träumen. So einfältig; so überflüssige, offensichtliche Symbole. Vollkommen unkon-trollierbarer Angstbrei, verabscheuungswürdiger, platter Unsinn.
    Und jetzt konnte ich nicht wieder einschlafen, während ich über die infantilen Bilder nachdachte. Wenn ich schon träumen musste, warum konnten diese Träume mir nicht ähnlicher sein, interessant und abwechslungsreich?
    Ich setzte mich auf und massierte meine pochenden Schläfen. Das lauernde langweilige Unbewusste verlief sich wie eine tropfende Nase, und ich hockte verschlafen und benebelt auf der Bettkante. Was passierte mit mir? Und warum konnte es nicht

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