Des Todes Dunkler Bruder
Schwester?«, fragte ich. Er schloss die Augen und nickte schwach, nur einmal. »Ja«, sagte ich. »Ich weiß Bescheid.«
»Sie und … du …«, sagte Harry.
»Was?«, verlangte Deborah zu wissen. »Worüber redet ihr? Daddy, ist alles in Ordnung? Was soll das heißen, sie und du?«
»Sie mag mich«, sagte ich. »Er meint, die Schwester wäre in mich verknallt, Deb«, erklärte ich ihr und wandte mich wieder Harry zu.
»Oh, ach so«, murmelte Deborah, aber ich konzentrierte mich bereits wieder vollkommen auf Harry.
»Was hat sie getan?«, fragte ich ihn.
Er versuchte den Kopf zu schütteln, brachte aber nur ein leichtes Wackeln zustande. Er zuckte zusammen. Mir war klar, dass die Schmerzen zurückkehrten, genau wie er es gewollt hatte. »Zu viel«, sagte er. »Sie gibt … zu viel –« Jetzt keuchte er und schloss die Augen.
Ich muss an jenem Tag ziemlich blöd gewesen sein, denn ich verstand nicht sofort, was er damit sagen wollte.
»Zu viel wovon?«, fragte ich.
Harry schlug ein vom Schmerz getrübtes Auge auf.
»Morphium«, flüsterte er.
Ich hatte das Gefühl, als hätte mich der Blitz getroffen.
»Überdosis«, sagte ich. »Sie mordet mit Hilfe einer Überdosis. Und an einem Ort wie diesem, wo das praktisch zu ihrem Job gehört, stellt niemand Fragen – warum, das ist …«
Harry drückte wieder meine Hand, und ich hörte auf zu brabbeln. »Lass nicht zu, dass …«, sagte er mit rauer Stimme und überraschend kraftvoll. »Lass nicht zu, dass sie mich wieder unter Drogen setzt.«
»Bitte«, mischte sich Deborah in äußerst gereiztem Ton ein. »Worüber redet ihr eigentlich?« Ich sah Harry an, aber Harry, den eine plötzliche Schmerzattacke überwältigte, hatte die Augen geschlossen.
»Er glaubt, äh …«, begann ich und verstummte dann.
Deborah hatte natürlich keine Ahnung, was ich war, und Harry hatte mir sehr bestimmt befohlen, sie darüber im Unklaren zu lassen. Was konnte ich ihr schon sagen, ohne andere Probleme zu offenbaren? »Er glaubt, dass die Schwester ihm zu viel Morphium gibt«, erklärte ich endlich. »Absichtlich.«
»Das ist verrückt«, sagte Deborah. »Sie ist Krankenschwester.«
Harry schaute sie an, sagte aber nichts. Und um die Wahrheit zu gestehen, mir fiel zu Deborahs unglaublicher Naivität auch nichts mehr ein.
»Was soll ich tun?«, fragte ich Harry.
Harry sah mich sehr lange an. Zuerst glaubte ich, der Schmerz hätte seinen Verstand verwirrt, aber dann erkannte ich, dass Harry außerordentlich präsent war. Er hatte die Kiefer so fest zusammengebissen, dass es wirkte, als würden die Knochen jeden Moment durch seine dünne blasse Haut stechen, und sein Blick war so klar und scharf wie immer, wie in dem Augenblick, als er mir zum ersten Mal die Harry-Lösung erklärt hatte, mit der ich mich in den Griff bekommen konnte. »Setz dem ein Ende«, sagte er endlich.
Ich spürte, wie mich ein unglaublicher Kitzel packte. Ein Ende setzen? War das möglich? Konnte er wollen – ihr ein Ende setzen? Bis jetzt hatte Harry mir geholfen, meinen Dunklen Passagier bei Laune zu halten, indem wir ihn mit streunenden Haustieren fütterten, Hirsche jagten, und bei einer glorreichen Gelegenheit war ich mit ihm losgezogen, um einen verwilderten Affen zu erwischen, der ein Viertel in South Miami terrorisierte. Er war so ähnlich gewesen, beinah menschlich – aber natürlich immer noch nicht das Wahre. Und wir waren theoretisch alle Schritte durchgegangen, das Beschatten, die Beseitigung von Beweisen und so weiter. Harry wusste, dass es eines Tages geschehen würde, und er wollte, dass ich bereit war, es richtig machte. Aber er hatte mich stets von der eigentlichen Tat zurückgehalten. Doch jetzt – ihr ein Ende setzen? Konnte er das meinen?
»Ich werde mit dem Arzt reden«, sagte Deborah. »Er wird dafür sorgen, dass sie deine Medikamente richtig dosiert.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Harry drückte meine Hand und nickte, einmal, voller Schmerzen. »Geh«, sagte er. Deborah sah ihn einen Moment an, bevor sie sich abwandte und das Zimmer verließ, um nach dem Arzt zu suchen. Nachdem sie gegangen war, erfüllte ein wildes Schweigen den Raum. Ich konnte an nichts anderes als an Harrys Worte denken: »Setz dem ein Ende.« Und mir fiel keine andere Interpretation ein als die, dass er mich endlich von der Leine ließ, mir endlich die Erlaubnis erteilte, das einzig Wahre zu tun. Aber ich wagte nicht, ihn zu fragen, ob er es so gemeint hatte, aus Angst, er könnte
Weitere Kostenlose Bücher