Des Todes Dunkler Bruder
mir sagen, ich hätte ihn missverstanden. Und so stand ich nur lange Zeit da, starrte durch das kleine Fenster nach draußen in den Garten, wo Spritzer roter Blumen sich um einen Brunnen drängten. Die Zeit verging. Mein Mund wurde trocken.
»Dexter …«, sagte Harry endlich.
Ich antwortete nicht. Keiner meiner Gedanken schien angemessen. »Es geht so«, sagte Harry langsam und voller Schmerzen, und mein Blick schoss zu ihm hinunter.
Er lächelte mich gequält an, als er erkannte, dass ich ihn endlich verstanden hatte. »Ich werde bald fort sein«, sagte Harry. »Ich kann dich nicht davon abhalten … der zu sein, der du bist.«
»Nicht der, Dad, das«, unterbrach ich.
Er winkte mit zerbrechlicher, spröder Hand ab. »Früher oder später … wirst du es … einer Person antun … müssen « , sagte er, und ich spürte, wie bei dieser Vorstellung mein Blut zu singen begann. »Jemandem … der es verdient … «
»Wie die Schwester«, sagte ich mit schwerer Zunge.
»Ja«, erwiderte er, schloss einen Moment lang die Augen, und als er fortfuhr, war seine Stimme heiser vor Schmerz. »Sie verdient es, Dexter. Das …« Er atmete rasselnd. Ich konnte seine Zunge klicken hören, als wäre sein Mund völlig ausgetrocknet. »Sie spritzt Patienten … absichtlich eine … Überdosis … tötet sie … tötet sie mit Absicht … Sie ist eine Mörderin, Dexter … ein Killer …«
Ich räusperte mich. Ich fühlte mich unbeholfen und benommen, aber das hier war immerhin ein bedeutender Augenblick im Leben eines jungen Mannes. »Möchtest du …«, begann ich und hielt inne, weil meine Stimme brach. »Ist es in Ordnung, wenn ich … ihr ein Ende setze, Dad?«
»Ja«, sagte Harry. »Setz ihr ein Ende.«
Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, mir absolute Gewissheit verschaffen zu müssen. »Du meinst, du weißt schon. Wie ich es getan habe. Mit, du weißt schon. Dem Affen?«
Harry hatte die Augen geschlossen und wurde ganz offensichtlich von einer Welle des Schmerzes davongetragen. Er atmete flach und unregelmäßig. »Setz … der Schwester … ein Ende«, sagte er. »Wie … dem Affen …«
Sein Kopf bog sich nach hinten, und sein Atem ging jetzt rascher, aber immer noch rau. Nun.
Das war es.
»Setz der Schwester ein Ende wie dem Affen.« Das hatte einen gewissen wilden Beiklang. Aber für mein wie verrückt surrendes Hirn war es reinste Musik. Harry setzte mich frei. Ich hatte seine Erlaubnis. Wir hatten darüber gesprochen, dies eines Tages zu tun, aber er hatte mich immer zurückgehalten. Bis jetzt.
Jetzt.
»Wir haben … darüber gesprochen«, sagte Harry, dessen Augen noch immer geschlossen waren. »Du weißt, was du zu tun hast …«
»Ich habe mit dem Arzt geredet«, sagte Deborah, die ins Zimmer geeilt kam. »Er kommt herunter und passt die Dosierung an.«
»Gut«, sagte ich. Ich spürte, wie etwas in mir aufstieg, vom Ende meines Rückgrats bis hoch hinaus über meinen Scheitel, ein elektrischer Schlag, der mich durchzuckte und sich dann wie ein dunkler Umhang um mich legte. »Ich gehe und rede mit der Schwester.«
Deborah sah erstaunt auf, vielleicht wegen meines Tonfalls. »Dexter …«, sagte sie.
Ich zögerte, kämpfte gegen die wilde Freude, die in mir anschwoll. »Ich will keine Missverständnisse«, erklärte ich. Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren fremd.
Ich schob mich an Deborah vorbei, bevor sie meinen Gesichtsausdruck bemerken konnte.
Und im Flur jenes Hospizes, während ich mir den Weg durch die Stapel sauberen, frischen, weißen Leinens bahnte, spürte ich zum ersten Mal, wie der Dunkle Passagier das Steuer übernahm. Dexter wurde in den Hintergrund gedrängt, wurde fast unsichtbar, wie die hellen Streifen auf einem gefährlichen und durchsichtigen Tiger. Ich verschmolz, war fast unmöglich zu erkennen, aber ich war dort, und ich war auf der Jagd, kreiste auf der Suche nach meiner Beute im Wind. In diesem ungeheuerlichen Moment der Freiheit, auf meinem Weg, mit Harrys Zustimmung zum ersten Mal das einzig Wahre zu tun, verschwand ich, verblasste in der Szenerie meines dunklen Selbst, während mein anderes Ich knurrend in Kauerstellung ging. Ich würde es endlich tun, tun, wozu ich geschaffen worden war.
Und ich tat es.
17
U nd hatte es getan. Vor so langer Zeit, doch die Erinnerung pulsierte noch heute in mir. Jenen ersten, auf einem Reagenzträger getrockneten Blutstropfen besaß ich nach wie vor. Es war mein erster, und ich konnte die Erinnerung mühelos wiederbeleben,
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