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Des Todes Dunkler Bruder

Des Todes Dunkler Bruder

Titel: Des Todes Dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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wenn ich die kleine trockene Scheibe herausnahm und betrachtete.
    Ich tat das hin und wieder. Es war ein ganz besonderer Tag für Dexter gewesen. Die Letzte Pflegerin war zum Ersten Spielkameraden avanciert, und sie hatte mir so viele wundervolle Türen geöffnet. Ich hatte so viel gelernt, so viele neue Dinge herausgefunden.
    Aber warum erinnerte ich mich jetzt an die Letzte Pflegerin? Warum schien mich die Kette von Ereignissen in die Vergangenheit zurückzutreiben? Ich durfte mich nicht in sentimentalen Erinnerungen an meine erste lange Hose ergehen. Ich musste unverzüglich ans Werk, wichtige Entscheidungen treffen und bedeutende Taten vollbringen. Anstatt vergnügt die Straße der Erinnerung entlangzuflanieren und in liebevollen Reminiszenzen an meinen ersten Tropfen Blut zu schwelgen.
    Den ich, wie mir jetzt auffiel, bei Jaworski vergessen hatte. Dies war eins der winzigen, absurden, unbedeutenden Details, die harte Männer der Tat in zappelige, wimmernde Neurotiker verwandeln. Ich brauchte diesen Reagenzträger. Ohne ihn war Jaworskis Tod nutzlos. Die ganze idiotische Episode war mittlerweile schlimmer als eine dumme impulsive Narretei; sie war unvollkommen. Ich hatte keinen Reagenzträger.
    Ich schüttelte den Kopf in dem spastischen Versuch, zwei graue Zellen in die gleiche Synapse zu rütteln.
    Halbherzig überlegte ich, mit dem Boot eine frühmorgendliche Runde zu drehen. Vielleicht würde die salzige Luft mir die Blödheit aus dem Schädel wehen. Oder ich konnte nach Turkey Point segeln, in der Hoffnung, dass die radioaktive Strahlung mich zurück in ein rational denkendes Wesen mutieren ließ. Stattdessen kochte ich Kaffee. Kein Reagenzträger, in der Tat. Dadurch verlor die Erfahrung an Wert. Ohne Reagenzträger hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können. Na, ja, fast. Es hatte noch andere Belohnungen gegeben. Ich lächelte liebevoll, als ich an die Kombination aus Mondlicht und gedämpften Schreien dachte. Oh, was für ein stürmisches kleines Ungeheuer ich gewesen war. Eine Episode, die keiner meiner anderen Erfahrungen glich. Es tat gut, von Zeit zu Zeit aus der stumpfen Routine auszubrechen. Dann war da natürlich noch Rita, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich darüber denken sollte, deshalb ließ ich es. Stattdessen dachte ich an die kühle Brise, die über dem sich krümmenden kleinen Mann geweht hatte, der gerne Kindern wehtat. Es war eine beinah glückliche Zeit gewesen. Aber in zehn Jahren würde die Erinnerung natürlich verblasst sein, und ohne den Reagenzträger konnte ich sie nicht wiederbeleben. Ich brauchte mein Souvenir. Nun, wir würden sehen.
    Während der Kaffee durchlief, sah ich eher hoffnungs- denn erwartungsfroh nach der Zeitung. Sie wurde selten vor halb sieben zugestellt und sonntags kam sie oft erst nach acht. Ein weiteres deutliches Beispiel für den Zerfall der Gesellschaft, über den sich Harry so viele Gedanken gemacht hatte. Mal ehrlich, wenn man mir nicht mal die Zeitung pünktlich zustellen kann, wie kann man dann erwarten, mich von der Ermordung anderer Leute abzuhalten?
    Keine Zeitung; egal. Medienberichte über meine Abenteuer waren für mich nie so schrecklich interessant gewesen. Harry hatte mich vor der Dummheit gewarnt, ein Poesiealbum anzulegen. Das wäre nicht notwendig gewesen; ich warf selten auch nur einen flüchtigen Blick in die Kritiken meiner Vorstellungen. Dieses Mal war es natürlich ein bisschen anders, da ich so impulsiv vorgegangen war und mir ein wenig Sorgen machte, ob ich meine Spuren sorgfältig genug beseitigt hatte. Ich war nur ein wenig neugierig, was wohl über meine spontane kleine Party gestern Abend geschrieben worden war. Deshalb saß ich ungefähr eine Dreiviertelstunde mit meinem Kaffee da, bis ich hörte, wie die Zeitung gegen meine Tür prallte. Ich holte sie herein und schlug sie auf.
    Was auch immer man über Journalisten sagen kann – und das ist eine ganze Menge, fast eine Enzyklopädie – ihr Gedächtnis plagt sie selten. Die gleiche Zeitung, die vor kurzer Zeit noch so lautstark trompetet hatte »COPS KRIEGEN KILLER!«, brüllten nun »EISMANN-STORY SCHMILZT!« Es war ein langer, reizender Artikel in lochdramatischem Stil, der detailliert von der Entdeckung einer übel zugerichteten Leiche in einem Rohbaukomplex jenseits der Old Cutler Road berichtete. »Eine Sprecherin der Polizei von Miami« – damit war mit Sicherheit Detective LaGuerta gemeint – sagte, dass es ziel zu früh sei, um etwas mit Gewissheit sagen zu

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