Desiderium
warum wir mit unseren Großeltern statt mit ihr hier standen? Konnte sie seinen Tod bis heute nicht verarbeiten, weil sie ihn ständig sah?
Mein Vater hätte das nicht gewollt!
»Uns geht es gut«, hörte ich meine Großmutter murmeln. Ich hatte schon überzeugendere Lügen gehört. »Deine Töchter entwickeln sich prächtig; du wärst stolz auf sie. Aber wir vermissen dich noch immer ungemein.«
Noemie wandte den Blick von mamé ab und starrte wie ich auf die Innschrift:
Mathieu Durands
Geboren am 31.01.1968
Gestorben am 17.04.2008
Letzteren hatte niemand mit Sicherheit bestätigen können.
»Monsieur Chevalier hat mir in der letzten Stunde ein neues Stück gegeben. Er hat erzählt, dass sein Vater es früher oft mit dir gespielt hat. Es ist wirklich schön, aber auch traurig. Es erinnert mich an dich.«
Ich hatte nie ganz verstanden, weshalb Noemie oder meine Großeltern mit den Grabsteinen redeten. Vielleicht half es ihnen, mir hatte es nie zugesprochen. Gut, ich war auch nicht gerade der Prototyp für normal Trauernde – oder überhaupt normale Menschen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie meine Großeltern mir Bl icke zuwarfen. Sie erwarteten, dass ich es ihnen gleichtat.
Nur hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte, außer: »Ich weiß, dass ich dich eigentlich vermisse. Es wäre besser, wenn du wieder hier wärst. Nur eine sonderbare Kopie von dir zu sehen , kann für niemanden gut sein.« Aber das konnte ich nicht tun, weshalb ich leise murmelte: »Ich kann nicht.«
Vermutlich hätte ich mich schämen sollen, dass ich mir etwas von der traurigen Stimmung der anderen abguckte, um nichts s agen zu müssen, aber ich hatte mir das mit der Gefühllosigkeit schließlich nicht ausgesucht.
Kurz danach ließen wir uns von Henry wieder nach Hause fahren.
Als wir wieder in der Villa waren, setzten wir uns in den altm odisch eingerichteten Salon auf das Stoffsofa. Der Kaffee stand bereits neben den mit Blümchen bemalten Porzellantassen, die laut Noemie nicht einmal bei der Hochzeit unserer Großeltern modern und schön gewesen sein konnten.
Wie gerufen erschien das Dienstmädchen Ariane, das ein Tablett mit Kirschkuchen und selbstgemachten Schokoladenkeksen h ereinbrachte. Ich brauchte meine Schwester nicht anzusehen, um zu wissen, wie groß ihre Augen wurden. Sie liebte Schokolade in jeglicher Form und am besten auch noch zu jeglicher Tageszeit.
»Dabei fällt mir ein, dass ich Sofia neulich getroffen habe und euch von ihr grüßen soll«, bemerkte ich.
Sofia war bis vor zwei Jahren die Haushälterin meiner Großeltern g ewesen. Die hübsche, bereits etwas ältere Spanierin hatte immer eine sehr freundliche, nette Seite an sich gehabt, wenn nötig jedoch auch einen schärferen, herrischen Ton an den Tag legen können. In meinen ersten Jahren in Paris hatte sie mir, wenn meine Eltern keine Zeit gehabt hatten, bei allem geholfen, was so anfiel. Dazu gehörte mich mit den schönsten Klischees und angeblichen Must have’s einer in Paris lebenden jungen Frau vertraut zu machen. Kein Mädchen würde wohl ihre erste ausgedehnte Shoppingtour vergessen, wenn es dank des gut gefüllten Familienkontos in die Galeries Lafayette ging – nicht einmal die, denen ihr Äußeres seit Jahren herzlich egal war.
»Danke, Cassim. Ist sie noch mit diesem Ingenieur zusammen?«
»Er ist Architekt. Und ja, ich denke schon. Sie hat zumindest nichts Gegenteiliges gesagt.«
Mamé nickte und schlug ihre dünnen Beine übereinander, wobei sie darauf achtete, ihr schwarzes Chiffonkleid nicht zu verknittern. Dann widmete sie sich ihrem Kaffee und einem Stück Kuchen. Es würde vermutlich die einzige Kalorienbombe für die gesamte Woche bleiben.
Mein Großvater richtete das Wort an meine Schwester. Der tiefe Basston in seiner Stimme ließ Noemie zusammenzucken, als er sie fragte, wie es in der Schule liefe.
»Es gibt nichts z u beklagen«, erwiderte sie. Ihr desinteressierter Ton stand in einem überdeutlichen Kontrast zu ihren noch immer rötlichen Augen und dem gierigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, sobald sie auch nur einen Blick auf die Kekse warf.
»Und dein Geigenunterricht verläuft genauso wie immer?«
Noemie runzelte leicht die Stirn. »Wenn Monsieur Chevalier nichts anderes sagt, dann ja.« Meine Schwester liebte Musik – auch wenn ihre Vorliebe sehr zum Missfallen meiner Großeltern momentan eher bei Justin Bieber lag – aber es hatte sie schon immer genervt, wenn er sie darüber ausfragte. Es
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