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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christin C. Mittler
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Probleme, seinen Tod zu verkraften wie meine Mutter. In den Tagen nach der Beerdigung hatte sie sich vollkommen zurückgezogen; wenn Noemie und ich sie doch einmal zu Gesicht bekommen hatten, waren wir nicht an sie herangekommen. Ihre Worte und Bewegungen hatten etwas Mechanisches an sich gehabt. Keine Woche später hatte Noemie entdeckt, dass der Glastisch in unserem Wohnzimmer zerstört worden war. Bis heute war ich eher bereit mir ein Bein abzuhacken als dass sie erfuhr, wie das passiert war. Oder dass meine Mutter an dem Tag, als sie in das Sanatorium gebracht worden war bereits eine volle Packung Schmerzmittel in der Hand gehalten hatte.
    Ich sagte ja, meine Familie war geprägt von Tragik.
     
    Als ich an diesem Abend ins Bett ging, dachte ich noch immer über die Familie meines Vaters nach. Mir selbst würde es wahrscheinlich, wenn man da an meine Leuchterfahrungen und die Gefühllosigkeit dachte, nicht besser gehen.
    In meinem Traum musste ich nach Luft schnappen. Meine Lungen schmerzten. Jeder einzelne Knochen zitterte und bäumte sich auf. Ich rollte über einen Abgrund. Meine Finger klammerten sich an einen Vorsprung. Ich keuchte, versuchte mich hochzuziehen. Meine Lungen schienen explodieren zu wollen.
    Alles in mir schrie danach, loszulassen. Wenn ich mich fallen lassen würde, wäre alles vo rbei. Ein kurzer Schmerz, mehr nicht, dann wäre es wieder gut.
    Meine Finger wurden schwitzig, rutschten ein ums andere Mal ab. Mein Herz raste, der Puls hallte in meinen Ohren.
    Dann waren da die Stimmen, die um mich herumschwirrten wie Mo tten ums Licht. Sie forderten mich auf zu kämpfen. Verlangten von mir, auf keinen Fall aufzugeben. Drohten mir, dass sie es mir niemals verzeihen würden, wenn ich nachgab. Als ich nach ihnen rufen wollte, versagte meine Stimme. Meine Füße begannen unruhig zu zappeln, verschlimmerten meine Lage.
    Die Stimmen kamen näher.
    Nun konnte ich erkennen, dass eine von ihnen meinem Vater gehörte. Den drängenden, gleichzeitig beschützenden Ton würde ich überall erkennen. Die zweite Stimme versuchte mir ebenfalls Mut zu machen, auch wenn ich sie nie zuvor gehört hatte. Sie weckte einen neuen Schmerz in mir, der mich glauben ließ, dass ein Fall alles nur verschlimmern würde.
    Ich durfte mich niemals fallen lassen!
    Endlich gelang es mir, neuen Halt zu finden. Langsam zog ich mich am Vorsprung hoch.
    Doch plötzlich verschwanden die Stimmen und hinterließen Leere. Mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel.

2. Das Porträt
     
     
    In den letzten Jahren hatte es am Todestag meines Vaters immer gere gnet. Es hatte gepasst, gepasst zu der Trauer, die sich jedes Mal auf die Gesichter meiner Großeltern und meiner Schwester stahl. Es hatte die nötige Trostlosigkeit mit sich gebracht.
    Doch als wir in diesem Jahr den Friedhof betraten, schien die Sonne und es ging kein Wind. Für April war es heiß. Wollte man etwas Kühle von dem Schatten der wenigen Bäume bekommen, musste man über einige Gräber laufen.
    Das Mausoleum, das neben meinem Vater und seiner Schwester noch ein paar andere mehr oder weniger bekannte Familienmitglieder väterlicherseits barg, befand sich am südlichen Ende des Friedhofes; dort, wo man den Lärm der Straßen nicht mehr hören konnte und nur wenige es sich leisten konnten, ihre Angehörigen zu bestatten.
    Die Ruhestätte der Toten ist hier genauso teuer wie die Kleidung der Lebenden ,  hatte ich einmal in einem erneuten Anflug von Zynismus gedacht.
    Mamé und Noemie weinten nicht, hatten jedoch Tränen in den Augen; auch wenn ich wusste, dass meine Großmutter um Fassung rang. Mein Großvater war bei seinem Versuch, würdevoll zu bleiben, ebenfalls nicht sonderlich erfolgreich. Feucht waren seine Augen nicht, aber sein Blick und seine Haltung sprachen Bände. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein musste, all diese Gefühle Jahr für Jahr wieder zu durchleben, weil das eigene Kind gestorben war – weil beide Kinder in weniger als fünf Jahren gestorben waren.
    Ich selbst hielt den Blick g esenkt, verspürte jedoch auch dieses Mal nichts.
    Mit einem Strauß Lilien, die früher einmal meine Lieblingsblumen gewesen waren, standen wir vor dem Grab meines Vaters.
    Unweigerlich dachte ich an das geistähnliche Wesen, das mich au fsuchte, wenn ich meine Mutter besuchte. Ich dachte daran, wie ähnlich es meinem echten Vater war – seine Gestik und Mimik, seine Wortwahl – und fragte mich, ob meine Mutter es jemals gesehen hatte. War das der wahre Grund,

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