Desiderium
los?«
»Nichts, wir machen uns nur Sorgen um dich«, erwiderten sie beinahe gleichzeitig.
Ich glaubte ihnen kein Wort. Ohne sie weiter zu beachten, griff ich mir meinen Morgenmantel und verließ das Zimmer. Einer Eingebung folgend ging ich nicht in Richtung Arbeitszimmer, sondern hoch in den ersten Stock, wo sich die Privatzimmer meiner Großeltern befanden. Wankend erklomm ich die Treppe.
Vor der Schlafzimmertür ging mamé unruhig auf und ab. Monsieur Chevalier, dessen Haar ungekämmt von seinem Kopf abstand, redete beruhigend auf sie ein.
»Cassim!« Meine Großmutter war blass. Sie sah kranker aus als ich mich fühlte.
Monsieur Chevalier wandte sich von ihr ab und trat auf mich zu. »Du solltest wieder i ns Bett gehen.«
»Wenn die Eingeweihten das tun würden, was ihr sonst immer tut – mich auf Schritt und Tritt verfolgen und mich über alles ausfragen, was passiert ist – wüssten Sie, dass ich die Letzte bin, die einen Babysitter braucht«, zischte ich Monsieur Chevalier an.
»Dein Großvater ist ebenfalls zusammengebrochen«, erklärte er mir schließlich. »Wir gehen von einem Herzinfarkt aus, aber der Arzt ist noch bei ihm.«
Das erklärte, warum man nicht wollte, dass ich ihn sah. Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Warum ist er nicht im Krankenhaus? Dort kann man sich doch besser um ihn kümmern.«
Monsieur Chevalier schüttelte den Kopf. »Er bevorzugt es, in seiner g ewohnten Umgebung zu bleiben. Sein Hausarzt ist, wie gesagt, bereits bei ihm.«
»Ist er denn ansprechbar?«
»Nein.«
Das klang nicht sonderlich vielversprechend.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich. Besagter Hausarzt steuerte direkt auf meine Großmutter zu. Seine Miene verhieß nicht, dass mein Großvater gleich geradezu quicklebendig aufspringen würde.
Aber das war es nicht, was mich am meisten schockierte: Kurz erhaschte ich einen Blick auf das Bett im Raum vor mir. Aber meinen Großvater selbst konnte ich ebenso wenig wie sonst einen Gegenstand im Raum erkennen.
Helles Licht erfüllte den Raum. Ein Leuchten, das ich kannte, seit ich ein kleines Kind gewesen war. Das Leuchten, das mir zeigte, wenn ein Mensch Sehnsucht empfand. Bisher hatte es immer nur die jeweilige Person umgeben, selbst bei meiner Mutter war es nicht anders gewesen.
Das Leuchten im Schlafzimmer erfüllte den gesamten Raum bis in den letzten Winkel. Es blendete und brannte mir in den Augen.
Die Sehnsucht war stärker als ich sie je zuvor gesehen hatte.
Schlimmer als ich sie je selbst glaubte empfunden zu haben.
Erst als sich die Tür vor mir schloss und ich nur noch das dunkle Holz anstarrte, sprach ich wieder. »Er ist einfach so zusammengebrochen? Plötzlich, ohne Vorwarnung?«
Mamé und der Arzt waren bereits nach unten gegangen. Monsieur Chevalier antwortete: »Ich wurde gestern von meinem Posten abgelöst, deshalb kehrte ich hierher zurück, um mit deinem Großvater auf deine Rückkehr zu warten. Die ganze Zeit war er verhältnismäßig ruhig, durchsuchte lediglich von Zeit zu Zeit seine Unterlagen. Dann auf einmal, er saß keine Minute an seinem Schreibtisch, schnappte er nach Luft und rutschte bewusstlos von seinem Stuhl.«
»Wann genau war das?«
Mein barscher Tonfall irritierte ihn. »Gestern Nachmittag, als du noch weg warst.«
»Wann genau?«
»Cassim!«, begann er zu protestieren, aber wie so oft ließ ich meinen Gesprächspartner nicht zu Wort kommen:
»Wann. Genau. Ist. Er. Zusammengebrochen?«
Für meine Verhältnisse überlegte er viel zu lang. »Zwischen fünf und halb sechs, schätze ich. Dir wird bewusst sein, dass ich Wichtigeres zu tun hatte als auf die Uhr zu gucken. Warum ist das so wichtig?«
Zunächst antwortete ich nicht. Die Rädchen in meinem Kopf ratterten und ratterten. »Öffnen Sie noch einmal die Tür! Bitte.«
Er tat es ohne noch einmal nachzufragen.
Ich hatte mir das Leuchten nicht eingebildet. Auch wenn ich mir wünschte, es wäre anders. Mein bewusstloser Großvater strahlte noch immer diese absolut unnatürlich starke Sehnsucht aus.
Als sei seine Sehnsucht verschwunden, ohne dass er sich von ihr hatte lösen können …
In der Villa meiner Großeltern war ich nicht in der Lage, so zu reagieren wie in der Welt der Sehnsüchte. Es entstand kein Sturm, auch wenn ich mir eine äußerst zerstörerische Version davon vorstellte. Ein Hurrikan wäre Kinderkram dagegen gewesen.
Stattdessen wandte ich mich wortlos von Monsieur Chevalier ab und ging hinunter. Dabei fühlte sich mein Gehirn seltsam
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