Désirée
mir den Bogen hin. »Lesen Sie selbst!« Ich beugte mich darüber. Obwohl er die Laterne ganz nahe hielt, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen, ich sah ein paar Worte in einer flüchtigen Handschrift, aber die Buchstaben tanzten – »Ich bin so aufgeregt, lesen Sie es mir vor«, sagte ich und spürte, dass mir die Tränen kamen. »Nach völliger Aufklärung des Vorfalls auf freien Fuß gesetzt worden!«
»Heißt das –« Ich zitterte am ganzen Körper. »Heißt das, dass Etienne –«
»Natürlich. Ihr Bruder ist frei. Ihr Bruder sitzt wahrscheinlich längst mit dieser Suzanne und der übrigen Familie zu Hause und lässt sich das Abendbrot gut schmecken. Und die ganze Familie feiert ihn und hat Sie völlig vergessen. Aber – aber, was ist denn, Bürgerin?« Ich hatte hilflos zu weinen begonnen, ich konnte mir nicht helfen, die Tränen rannen mir über die Wangen, und ich musste weinen und weinen, und es war vollkommen unverständlich, denn ich war ja nicht traurig, sondern unsagbar glücklich, und ich habe nicht geahnt, dass man auch vor Freude weinen kann.
»Ich bin so froh –«, schluchzte ich, »Monsieur, ich bin ja – so froh.« Dem jungen Manne war diese Szene sichtlich peinlich, er legte den Akt zurück und machte sich am Schreibtisch zu schaffen. Und ich kramte in meinem Pompadour und suchte ein Taschentuch, aber es stellte sichheraus, dass ich heute Morgen vergessen hatte, eines einzustecken. Dann fielen mir die vielen Taschentücher in meinem Ausschnitt ein, und ich griff in mein Dekolletee. Gerade in diesem Augenblick wandte sich der junge Mann wieder zu mir und konnte beinahe seinen Augen nicht trauen: Da kamen aus meinem Ausschnitt zwei, drei, vier Tüchlein hervor, es sah wie der Trick eines Zauberkünstlers aus. »Ich habe Taschentücher in den Ausschnitt gesteckt, damit man sieht, dass ich erwachsen bin«, murmelte ich, weil ich das Gefühl hatte, ihm eine Erklärung zu schulden. Ich schämte mich schrecklich. »Zu Hause behandeln sie mich nämlich immer wie ein Kind.« »Sie sind kein Kind mehr, Sie sind eine junge Dame«, versicherte der Bürger Bunopat sofort. »Und jetzt werde ich Sie nach Hause begleiten. Es ist nämlich für eine junge Dame nicht angenehm, um diese Zeit allein durch die Stadt zu gehen.«
»Es ist zu gütig, Monsieur, aber ich kann es nicht annehmen –«, stammelte ich verlegen. »Sie haben selbst gesagt, dass Sie nach Hause wollen.« Er lachte: »Einem Freund Robespierres widerspricht man nicht! Jetzt essen wir beide ein Bonbon, und dann gehen wir.«
Er öffnete ein Schubfach im Schreibtisch und hielt mir eine Tüte entgegen. Kirschen mit Schokoladenüberguss! »Albitte hat immer Bonbons in seinem Schreibtisch«, erklärte er. »Nehmen Sie nur noch eine Schokoladenkirsche! Schmeckt gut, nicht wahr? Das können sich heutzutage nur Abgeordnete leisten!« Der letzte Satz klang etwas bitter. »Ich wohne auf der anderen Seite der Stadt, es wird ein großer Umweg für Sie sein«, sagte ich schuldbewusst, als wir das Maison Commune verließen. Aber ablehnen wollte ich seine Begleitung nicht, denn in Marseille kann eine junge Dame abends wirklich nicht unbelästigt durch die Straßen gehen. Und außerdem gefiel er mir ja so gut. »Ichschäme mich so, dass ich vorhin geweint habe«, sagte ich etwas später. Er drückte meinen Arm ein wenig und versicherte: »Das verstehe ich doch so gut! Ich habe nämlich auch Geschwister, die ich sehr liebe. Und sogar Schwestern, die ungefähr in Ihrem Alter sein dürften.« Nun fühlte ich wirklich keine Scheu mehr vor ihm. »Sie sind aber nicht hier zu Hause?«, fragte ich.
»Doch, meine ganze Familie, mit Ausnahme eines Bruders, lebt jetzt in Marseille.«
»Ich dachte nur, weil – weil Sie eine andere Aussprache als wir hier haben.«
»Ich bin Korse«, sagte er. »Korsischer Flüchtling. Vor etwas über einem Jahr kam ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern nach Frankreich. Wir mussten alles auf Korsika zurücklassen, um unser nacktes Leben zu retten.« Es klang wildromantisch. »Warum denn?«, fragte ich atemlos vor Spannung. »Weil wir Patrioten sind«, erklärte er. »Gehört eigentlich Korsika zu Italien?«, erkundigte ich mich, denn für meine Unwissenheit gibt es leider keine Grenzen.
»Aber was fällt Ihnen ein!«, antwortete er empört. »Korsika steht doch seit fünfundzwanzig Jahren unter französischer Herrschaft. Und wir sind als französische Bürger erzogen worden, als patriotische französische Bürger …
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