Désirée
Jean-Baptistes Gesicht: »Für einen Mord gibt es keine Entschuldigung, General! Politische Gründe sind –«
»Madame«, sagte Jean-Baptiste ruhig, »Sie haben vor vielen Jahren ihren Sohn auf die Militärakademie geschickt und ihn zum Offizier heranbilden lassen. Es könnte sein, Madame, dass Ihr Sohn den Wert eines einzelnen Menschenlebens anders einschätzt als Sie.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Hier handelt es sich nicht um ein Menschenleben in einer Schlacht, General! Hier handelt es sich um einen Mann, den man mit Gewalt nach Frankreichgeschleppt hat, um ihn niederzuschießen. Mit diesem Schuss wird Frankreich sein Ansehen verlieren. Ich will nicht, dass mein Napoleone zum Mörder wird, ich will es nicht, verstehen Sie mich?« »Sie sollten mit ihm sprechen, Madame«, schlug Jean-Baptiste vor. »No, no Signor –«, ihre Stimme schwankte, und der Mund arbeitete aufgeregt. »Es würde nichts nützen, Napoleone würde sagen – Mama, das verstehst du nicht, geh schlafen, Mama, soll ich deine Monatsrente erhöhen? Sie muss gehen, Signor – sie, die Eugénie!« Mir blieb das Herz stehen. Verzweifelt begann ich den Kopf zu schütteln. »Signor General – Sie wissen es nicht, aber damals, als mein Napoleone verhaftet wurde und wir Angst hatten, sie werden ihn erschießen, da ist sie – die Kleine, die Eugénie – da ist sie zu den Behörden gelaufen und hat ihm geholfen. Jetzt muss sie zu ihm – und sie muss ihn daran erinnern und ihn bitten –« »Ich glaube nicht, dass dies auf den Ersten Konsul Eindruck machen würde«, sagte Jean-Baptiste. »Eugénie – Pardon, Signora Bernadotte, Madame – Sie wollen doch nicht, dass Ihr Land vor der ganzen Welt als Mörderrepublik dasteht? Nicht wahr, Sie wollen es nicht? Man hat mir auch erzählt – oh, so viele Leute waren heute bei mir, um mit mir wegen dieses Herzogs zu sprechen – man hat mir erzählt, dass er eine alte Mutter hat und eine Braut und – Madame, haben Sie Mitleid mit mir, helfen Sie mir, ich will nicht, dass mein Napoleone –« Jean-Baptiste war aufgestanden und wanderte ziellos durch das Zimmer. Madame Letitia gab nicht nach. »General, wenn Ihr Sohn, wenn Ihr kleiner Oscar im Begriffe wäre, dieses Urteil zu unterschreiben –«
»Désirée, mach dich fertig und fahr in die Tuilerien!« Sehr leise und sehr entschieden sprach Jean-Baptiste. Ich stand auf. »Du begleitest mich, Jean-Baptiste, nicht wahr, du begleitest mich?«
»Du weißt genau, kleines Mädchen, dass dies demHerzog die letzte Chance nehmen würde.« Jean-Baptiste lächelte bitter. Dann nahm er mich an den Schultern und zog mich an sich: »Du musst allein mit ihm sprechen. Ich fürchte, du wirst keinen Erfolg haben, aber du musst es versuchen, Liebling.« Seine Stimme war voll Mitleid. Ich wehrte mich noch immer. »Es sieht nicht gut aus, wenn ich nachts allein in die Tuilerien gehe«, sagte ich. »Es kommen zu viele Damen spätabends allein –« Es war mir ganz egal, ob Madame Letitia es hörte oder nicht: »– ja, allein zum Ersten Konsul.« »Setz einen Hut auf, nimm einen Umhang und mach dich auf den Weg«, sagte Jean-Baptiste nur. »Nehmen Sie meinen Wagen, Madame! Und wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich hier auf Ihre Rückkehr warten«, sagte Madame Letitia. Ich nickte mechanisch. »Ich werde Sie nicht stören, General, ich werde mich hier ans Fenster setzen und warten«, hörte ich sie noch hinzufügen. Dann lief ich in mein Zimmer und band mit fliegenden Fingern den neuen Hut mit der blassrosa Rose fest. Seitdem am Weihnachtsabend vor vier Jahren eine Höllenmaschine dicht hinter Napoleons Wagen explodiert ist und beinahe kein Monat vergeht, in dem nicht Polizeiminister Fouché irgendein geplantes Attentat auf den Ersten Konsul verhindert, kann man die Tuilerien nicht betreten, ohne bei jedem zehnten Schritt angehalten und gefragt zu werden, was oder wen man hier eigentlich suchte. Trotzdem verlief alles viel einfacher, als ich gedacht hatte. Jedes Mal, wenn ich angehalten wurde, antwortete ich nur: »Ich möchte den Ersten Konsul sprechen«, und wurde sofort durchgelassen. Man fragte nicht nach meinem Namen. Man fragte auch nicht nach dem Zweck meines Besuches. Die Nationalgardisten verkniffen nur ein Lächeln, starrten mir neugierig ins Gesicht und zogen mich in Gedanken aus. Das Ganze war mir furchtbar peinlich. Schließlich erreichte ich jene Tür, von der aus man angeblich in denVorraum des Arbeitszimmers des Ersten Konsuls gelangt. Ich war
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