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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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noch nie hier gewesen, denn die wenigen Familienfeste, die ich in den Tuilerien besucht hatte, waren in Josephines Räumen abgehalten worden. Die beiden Soldaten der Nationalgarde, die vor dieser Tür Posten standen, fragten mich überhaupt nicht. Ich öffnete daher die Tür und trat ein. An einem Schreibtisch saß ein junger Mann in Zivil und schrieb. Ich musste mich zweimal räuspern, bevor er mich hörte. Dafür schoss er dann wie von der Tarantel gestochen in die Höhe. »Sie wünschen, Mademoiselle?« »Ich möchte den Ersten Konsul sprechen.«
    »Sie haben sich geirrt, Mademoiselle, Sie befinden sich in den Amtsräumen des Ersten Konsuls.«
    Ich begriff nicht, was der junge Mann von mir wollte. »Ist denn der Erste Konsul schon schlafen gegangen?«, fragte ich.
    »Der Erste Konsul befindet sich noch in den Amtsräumen.«
    »Dann führen Sie mich doch zu ihm!«
    »Mademoiselle –«, es war komisch, der junge Mann, der bisher tödlich verlegen die Spitzen meiner Schuhe betrachtet hatte, errötete und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. »Mademoiselle, Kammerdiener Constant hat Ihnen bestimmt gesagt, dass er Sie beim rückwärtigen Eingang erwartet. Hier – hier sind doch die Amtsräume!«
    »Aber ich will mit dem Ersten Konsul sprechen und nicht mit seinem Kammerdiener! Gehen Sie zum Ersten Konsul hinein und fragen Sie, ob man ihn einen Augenblick stören darf. Es ist – ja, es ist sehr wichtig.«
    »Mademoiselle –«, sagte der junge Mann flehend.
    »Und nennen Sie mich nicht Mademoiselle, sondern Madame. Ich bin Madame Jean-Baptiste Bernadotte.«
    »Mademoi– oh Madame – oh Pardon –« Der junge Mann betrachtete mich, als ob ich der Geist seinerverstorbenen Urgroßmutter wäre. »Es war ein Irrtum«, flüsterte er.
    »Das kann passieren. Aber jetzt melden Sie mich schon endlich an!« Der junge Mann verschwand und kehrte sofort wieder zurück. »Darf ich Madame bitten, mir zu folgen. Es sind noch Herren beim Ersten Konsul, der Erste Konsul lässt Madame bitten, sich eine Minute zu gedulden. Nur eine Minute, hat der Erste Konsul gesagt.« Er führte mich in einen kleinen Salon mit dunkelroten Brokatstühlen, die ernsthaft um einen Marmortisch gruppiert waren. Ein Salon, der ausschließlich zum Warten bestimmt war. Aber ich wartete nicht lange. Eine Tür öffnete sich, und drei, vier gekrümmte Rücken wurden sichtbar, die sich vor jemandem, den ich nicht sehen konnte, verbeugten und »angenehme Ruhe, angenehme Ruhe« wünschten. Hinter ihnen schloss sich die Tür. Die Herren – jeder hielt einen Stoß Akten unterm Arm – steuerten auf den Vorraum zu, während der Sekretär an ihnen vorbeistürzte und im Zimmer des Ersten Konsuls verschwand. Er hatte aber die Tür noch gar nicht hinter sich geschlossen, als er auch schon wieder herausgeschossen kam und feierlich ankündigte: »Madame Jean-Baptiste Bernadotte – der Erste Konsul lässt bitten.« »Das ist die reizendste Überraschung, die mir seit Jahren zuteil wurde«, sagte Napoleon, als ich eintrat. Er hatte dicht an der Tür auf mich gewartet und nahm meine Hände und zog sie an die Lippen. Und – küsste sie richtig. Kühl und feucht spürte ich seine Lippen zuerst auf der rechten Hand und dann auf der linken. Ich entzog ihm schnell meine Hände und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Setzen Sie sich, Liebste, setzen Sie sich! Und erzählen Sie mir, wie es Ihnen geht. Sie werden jünger, von Jahr zu Jahr jünger.« »Das stimmt nicht«, sagte ich, »die Zeit vergeht so schnell. Nächstes Jahr müssen wir bereits einen Lehrer für Oscarfinden.« Er drückte mich in den Armsessel neben seinem Schreibtisch nieder. Aber er selbst setzte sich nicht mir gegenüber an den Schreibtisch, sondern lief unruhig im ganzen Raum hin und her, und ich musste mir den Hals verrenken, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Es war ein sehr großer Raum, in dem eine Menge kleiner Tische herumstand, die alle mit Büchern und Schriftstücken beladen waren. Auf dem großen Schreibtisch jedoch waren die Aktenstücke in zwei ordentliche Stöße geordnet. Die beiden Stöße lagen auf Holzfächern, die wie lange schmale Schubfächer aussahen. Zwischen den beiden Stößen – dicht vor dem Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch – schimmerte ein einziger Bogen mit blutrotem Siegel. Im Kamin prasselte starkes Feuer, es war zum Ersticken heiß.
    »Das müssen Sie sehen! Die ersten Exemplare, die aus der Maschine kamen – hier!« Er hielt mir einige Blätter, dicht und winzig

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