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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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klein bedruckt, unter die Nase. Ich sah Paragraphenzeichen. »Das Bürgerliche Gesetzbuch ist fertig! Der Code civil der Französischen Republik. Die Gesetze, um die man in der Revolution gekämpft hat – ausgearbeitet, aufgeschrieben, gedruckt. Und gültig, für ewig gültig. Ich habe Frankreich den neuen Code civil gegeben!« Jahr um Jahr hatte er sich mit unseren besten Rechtsgelehrten eingeschlossen und Frankreichs bürgerliches Gesetzbuch ausgearbeitet. Nun war es gedruckt worden und trat in Kraft. »Die humansten Gesetze der Welt! Lesen Sie nur – hier, das betrifft die Kinder! Der erstgeborene Sohn verfügt nicht über mehr Rechte als seine Geschwister. Und hier: Jedes Elternpaar ist verpflichtet, seine Kinder zu erhalten. Sehen Sie doch –« Er holte von einem der Tischchen andere Blätter und begann sie zu überfliegen: »Die neuen Ehegesetze! Sie ermöglichen nicht nur Scheidung, sondern auch Separation. Und hier: –« Er zog ein anderes Blatt hervor. »Das betrifft den Adel. Dererbbare Adel ist abgeschafft.« »Im Volksmund nennt man heute schon Ihren Code civil den Code Napoleon«, sagte ich. Ich wollte ihn bei guter Laune halten. Übrigens stimmte es. Er warf mit einem Schwung die Bogen auf den Kaminsims. »Verzeihen Sie, ich langweile Sie, Madame«, sagte er und trat dicht hinter mich. »Nehmen Sie doch den Hut ab, Madame!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein – ich bleibe doch nur einen Augenblick, ich wollte nur –« »Aber er kleidet Sie nicht, Madame, er kleidet Sie wirklich nicht! Darf ich Ihren Hut abnehmen?«
    »Nein. Und außerdem ist es ein neuer Hut, und Jean-Baptiste sagt, er steht mir ausgezeichnet.«
    Er trat sofort zurück. »Natürlich, wenn General Bernadotte es sagt …« Er begann wieder hinter meinem Rücken auf und ab zu gehen. Jetzt habe ich ihn geärgert, dachte ich verzweifelt und löste schnell die Hutschleifen. »Darf ich fragen, was mir die Ehre ihres nächtlichen Besuches verschafft, Madame?« Es klang scharf. »Jetzt habe ich den Hut abgenommen«, sagte ich. Ich hörte, dass er stehen blieb. Dann trat er wieder dicht hinter mich. Ganz leicht fuhr seine Hand über mein Haar. »Eugénie –«, sagte er, »kleine Eugénie –« Ich beugte schnell den Kopf, um seiner Hand zu entgehen. Es war die Stimme aus jener Regennacht, in der wir uns verlobten. »Ich wollte Sie um etwas bitten«, sagte ich und hörte selbst, dass meine Stimme zitterte. Er ging quer durch den Raum und lehnte sich mir gegenüber an den Kamin. Die Flammen warfen rote Lichter auf seine glänzenden Stiefel. »Natürlich«, bemerkte er nur. »Wieso natürlich?«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Ich habe nicht erwartet, dass Sie mich besuchen, ohne um etwas zu bitten«, sagte er spitz. Und während er sich niederbeugte und ein mächtiges Holzscheit in die Flammen warf: »Übrigens haben die meisten Leute, die sich bei mir melden lassen, ein Anliegen. Daran gewöhnt man sich in meiner Stellung.Nun, was kann ich für Sie tun, Madame Jean-Baptiste Bernadotte?« Seine höhnische Überlegenheit war mehr, als ich ertragen konnte. Abgesehen davon, dass er jetzt kurze Haare trug und eine tadellos geschnittene Uniform, sah er kaum anders aus als damals in unserem Garten in Marseille. »Haben Sie sich vielleicht eingebildet, dass ich Sie mitten in der Nacht aufsuchen würde, wenn ich keinen sehr dringenden Anlass dazu hätte?«, fauchte ich. Meine Wut schien ihm Spaß zu machen. Vergnügt wippte er von den Fußspitzen auf die Fersen, von den Fersen auf die Fußspitzen. »Das habe ich zwar nicht angenommen, Madame Jean-Baptiste Bernadotte, aber – vielleicht gehofft. Man darf doch hoffen, Madame, nicht wahr?« So geht es nicht, dachte ich verzweifelt, ich bringe ihn ja nicht einmal dazu, mich ernst zu nehmen. Meine Finger begannen die Seidenrose auf meinem neuen Hut zu zerpflücken. »Sie ruinieren Ihren neuen Hut, Madame«, hörte ich ihn sagen. Ich sah nicht auf. Ich schluckte und schluckte und spürte trotzdem, dass zwischen meinen Wimpern eine Träne durchrutschte und brennend über meine Wange lief. Ich versuchte, sie mit der Zunge aufzufangen. »Womit kann ich dir helfen, Eugénie?« Das war wieder er – Napoleon von damals. Zärtlich, aufrichtig. »Sie sagen, dass viele Leute zu Ihnen kommen, um Sie um etwas zu bitten. Pflegen Sie diesen Leuten ihre Wünsche zu erfüllen?«
    »Wenn ich es verantworten kann, natürlich.«
    »Vor wem verantworten? Sie – Sie sind doch der mächtigste Mann, den es gibt,

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