Désirée
eine Zeit, in der sich niemand um unseren Glauben kümmerte und jeder denken durfte, was er wollte. Als Napoleon Erster Konsul wurde, gab es wieder Priester, die nicht auf die Republik, sondern auf die Heilige Römische Kirche vereidigt wurden. Schließlich zwang Napoleon den Papst, aus Rom nach Paris zu kommen, um ihn zu krönen, und führte die katholische Religion als Staatsreligion ein. Und jetzt lässt er einen Zusatz zum Katechismus unterrichten … Den Bauern werden ihre Söhne von den Feldern geholt, damit sie in Napoleons Armeen marschieren, es kostet achttausend Francs, um sich vom Militärdienst loszukaufen, und achttausend Francs sind viel Geld für einen Bauern. Deshalb halten sie einfach ihre Söhne versteckt, und die Gendarmen sperren die Frauen, Schwestern und Bräute als Geiseln ein. Dabei spielen die versteckten französischen Deserteure gar keine Rolle mehr. Frankreich hat genug Truppen, die besiegten Fürsten müssen ja Regimenter stellen, um zu beweisen, dass sie dem Kaiser dienen. Tausende, Zehntausende werden aus ihren Betten gerissen und marschieren für Napoleon. Jean-Baptiste klagt so oft darüber, dass seine Soldaten unsere Sprache gar nicht verstehen können und seine Offiziere durch Dolmetscher kommandieren müssen. Warum lässt Napoleon sie denn marschieren, diese jungen Burschen, immer neue Kriege,immer neue Siege, Frankreichs Grenzen müssen doch längst nicht mehr verteidigt werden? Frankreich kennt gar keine Grenzen mehr. Oder handelt es sich gar nicht mehr um Frankreich? Nur noch um ihn, Napoleon, den Kaiser –? Ich weiß nicht, wie lange wir einander gegenüberstanden, dieser junge Lehrer und ich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, wie eine Schlafwandlerin in diesen letzten Jahren gelebt zu haben. Schließlich drehte ich mich um und ging zur Tür. Wiederholte nur noch: »Lassen Sie den Zusatz zum Katechismus weg, Oscar ist noch zu klein. Er weiß nicht, was er bedeutet.« Dann ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Der Korridor war leer. Kraftlos lehnte ich an der Wand und begann fassungslos zu weinen. Zu klein, schluchzte ich nur, er weiß nicht, was es bedeutet … Und deshalb lässt du es die Kinder lernen, Napoleone, gerade deshalb, du Seelenfänger. Für die Menschenrechte hat ein ganzes Volk geblutet, und als es erschöpft war und die Menschenrechte ausgerufen waren, hast du dich einfach an die Spitze dieses Volkes gestellt … Ich weiß nicht, wie ich in mein Schlafzimmer kam. Ich weiß nur, dass ich plötzlich auf meinem Bett lag und in die Kissen schluchzte. Diese Proklamationen! Wir kennen sie alle, sie füllen ja stets die erste Seite des »Moniteur«. Immer noch dieselben Worte wie einst unter den Pyramiden, die er uns bei einem Sonntagsessen zum ersten Mal vorgelesen hat. »Die Menschenrechte liegen diesem Tagesbefehl zugrunde …«, hat damals jemand zu ihm gesagt. Joseph war es, der ältere Bruder, der ihn haßt. »Und die Menschenrechte hast du nicht geschrieben!«, triumphierte Joseph. Nein, du missbrauchst nur ihren Namen, Napoleone. Um sagen zu können, dass du die Nationen befreist, während du sie in Wirklichkeit unterwirfst. Um im Namen der Menschenrechte Blut zu vergießen …
Jemand nahm mich in die Arme. »Désirée – ?« »Kennstdu den neuen Zusatz zum Katechismus, den Oscar lernen soll?«, schluchzte ich. Jean-Baptiste presste mich an sich. »Ich habe es verboten«, flüsterte ich. »Es ist dir doch recht, Jean-Baptiste?« »Danke. Ich hätte es sonst selbst verbieten müssen«, sagte er nur. Der Druck seiner Arme ließ nicht nach. »Jean-Baptiste, diesen Mann hätte ich beinahe geheiratet. Stell dir das nur vor!« Sein Lachen befreite mich aus der Gefangenschaft meiner Gedanken. »Es gibt Dinge, die ich mir nicht vorstellen will, kleines Mädchen!« Wenige Tage später freute ich mich mit Oscar und Jean-Baptiste auf unser Konzert, das der Wiener Musiker leiten sollte. Monsieur Beethoven ist ein mittelgroßer untersetzter Mann mit der unordentlichsten Frisur, die je bei uns zu Tisch erschienen ist. Sein Gesicht ist rund und von der Sonne braun gebrannt, er hat Pockennarben und eine flache Nase und schläfrige Augen. Nur wenn man ihn anspricht, nehmen diese Augen einen spähenden Ausdruck an und lassen die Lippen des Sprechers nicht los. Da ich wusste, dass der Arme schwerhörig ist, schrie ich ihm geradezu entgegen, wie sehr ich mich freue, dass er uns besucht. Jean-Baptiste schlug ihm auf die Schulter und fragte, was es in Wien Neues
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