Désirée
diesem Musiker aus Wien vorspielen zu müssen. Aber dazu kam es nicht. Den Abend, an dem der Musiker aus Wien bei uns zu Besuch war, werde ich nie vergessen. Der Abend begann so schön … Oscar, der strahlende Augen bekommt, wenn er Musik hörendarf, plagte mich so lange, bis ich ihm erlaubte, länger aufzubleiben. Und Oscar wusste auch viel mehr über das bevorstehende Konzert als ich. Der Wiener Musiker heißt – mein Gott, ich habe mir doch den Namen aufgeschrieben, ein sehr ausländischer Name, wahrscheinlich germanisch – ja, Beethoven heißt der Mann! Jean-Baptiste hatte Befehl gegeben, dass sich alle Mitglieder der ehemaligen königlichen Hofkapelle von Hannover diesem Beethoven aus Wien zur Verfügung stellen und drei Vormittage lang im großen Saal mit ihm Proben abhalten sollten. Während dieser Tage durften Oscar und ich nicht in den Ballsaal und rutschten daher nicht auf dem Parkett herum, und ich benahm mich meiner Stellung durchaus würdig. Oscar dagegen war sehr aufgeregt. »Wie lange darf ich aufbleiben, Mama? Bis nach Mitternacht? Wie kann ein Mann, der taub ist, Musik schreiben? Glaubst du, dass er nicht einmal seine eigene Musik hören kann? Hat dieser Monsieur Beethoven wirklich ein Hörrohr? Bläst er manchmal auf seinem Hörrohr?« Nachmittags fuhr ich mit Oscar meistens spazieren, und unter den gelbgrünen Schatten der langen Lindenallee, die vom Schloss aus ins Dorf Herrenhausen führt, versuchte ich, seine tausend Fragen zu beantworten. Da ich Monsieur Beethoven, oder wie der Mann heißt, noch nicht gesehen hatte, wusste ich nichts über das Hörrohr und nahm an, dass er es, obwohl Musiker, ausschließlich zum Hören und nicht zum Blasen verwendet. »Papa sagt, dass er einer der größten Menschen ist, die er kennt. Wie groß kann er sein? Größer als ein Grenadier der Leibwache des Kaisers?«
»Papa meint nicht die körperliche Größe, sondern geistige. Er ist – ja, wahrscheinlich ist er genial. Das versteht Papa nämlich unter einem großen Menschen.« Oscar grübelte. Schließlich: »Größer als Papa?«
Ich nahm Oscars klebrige Kinderfaust, in der ein halbgelutschtes Bonbon verborgen lag, in meine Hand. »Das weiß ich nicht, Liebling!«
»Größer als der Kaiser, Mama?«
In diesem Augenblick wandte sich der Kammerdiener, der neben unserem Kutscher auf dem Bock saß, um und sah mich neugierig an. Ich verzog keine Miene. »Kein Mensch ist größer als der Kaiser, Oscar«, antwortete ich ruhig. »Vielleicht kann er seine eigene Musik gar nicht hören«, grübelte Oscar weiter. »Vielleicht«, antwortete ich zerstreut und war plötzlich traurig. Ich wollte meinen Sohn anders erziehen, ging es mir durch den Kopf. Zu einem freien Menschen. Ganz im Sinne von Papa. Der neue Lehrer, den der Kaiser uns persönlich für Oscar empfohlen hatte und der vor einem Monat hier ankam, hat dem Kind den Zusatz zum Katechismus, der jetzt in allen Schulen Frankreichs gelehrt werden muss, beizubringen versucht. »Wir schulden unserem Kaiser Napoleon I., dem Ebenbild Gottes auf Erden, Respekt, Gehorsam, Loyalität, Militärdienst …«
Neulich trat ich zufällig in Oscars Schulzimmer und glaubte zuerst, falsch gehört zu haben. Aber der schmalbrüstige junge Lehrer, ehemaliger Vorzugsschüler der Kadettenschule in Brienne, der immer wie ein Taschenmesser zusammenklappt, wenn er Jean-Baptiste oder mich sieht, und seine Sporen in das Fell des Hundes gräbt, den Fernand gefunden und aufgezogen hat, wenn er glaubt, dass niemand zuschaut – also, dieser Lehrer nach Napoleons Wahl wiederholte die Worte. Kein Zweifel: »Kaiser Napoleon I., Ebenbild Gottes auf Erden …«
»Ich möchte nicht, dass das Kind das lernt. Lassen Sie den Zusatz zum Katechismus weg«, sagte ich. »Das wird in allen Schulen des Kaiserreichs unterrichtet, es ist Gesetz«, sagte der junge Mann und fügte ausdruckslos hinzu: »Seine Majestät ist sehr an der Ausbildung seinesPatenkindes interessiert, ich habe Auftrag, Seiner Majestät regelmäßig darüber zu berichten. Es handelt sich doch um den Sohn eines Marschalls von Frankreich.« Ich sah Oscar an. Der schmale Kindernacken beugte sich über ein Schreibheft. Gelangweilt zeichnete er Männchen. Zuerst haben mich die Nonnen unterrichtet, dachte ich, dann hat man die Nonnen eingesperrt oder davongejagt und uns Kindern erklärt, es gäbe keinen Gott, sondern nur die reine Vernunft. Diese reine Vernunft sollten wir anbeten, und Robespierre ließ ihr sogar Altäre errichten. Dann kam
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