Désirée
Hand einen silbernen Stab!« – »Den Kommandostab«, erklärte ihr Louis Napoleon. – »Onkel Marius sagt, es war ein alter Marschallstab«, flüsterte Zenaïde. – »Und sein Gesicht! Wie aus Marmor gemeißelt, behauptet Tante Marceline«, kam esvon Charlotte. »So blass?«, fragte ich erschrocken. »Nein, so – weißt du, so unbeweglich. Wie eine Statue … Der Zar hat immerfort gelächelt, und der alte Kaiser von Österreich hat sogar gewinkt, aber der Preußenkönig –« Die Kinder begannen zu kichern. »Du, der Preußenkönig hat ein schrecklich böses Gesicht gemacht – mit Stirnfalten und allem, was dazu gehört. Damit wir uns in Zukunft vor ihm mehr fürchten, sagt Onkel Marius.« »Und die Leute, die anderen Zuschauer? Was haben die gesagt?« »Alles mögliche, es hat ja so viel zu sehen gegeben. Die vielen fremden Uniformen und das schöne Pferd des Zaren und – du, die Kosaken tragen außer ihren Waffen noch lange Peitschen! Über die Preußen hat man sehr gelacht, die werfen die Beine nämlich im Parademarsch so hoch und –«
»Was haben denn die Leute gesagt, während Onkel Jean-Baptiste vorbeiritt?« Die Kinder sahen einander verlegen an. »Tante, da ist es auf einmal ganz still geworden«, sagte Louis Napoleon zögernd. »Wirklich – totenstill.«
»Die Schweden haben viele Adler und Fahnen erobert, die haben sie hinter ihm hergetragen«, flüsterte Charlotte. »Tante, unsere Adler!«, stieß plötzlich Charles Louis Napoleon verzweifelt hervor. – »Geht jetzt ins Haus, Kinder, und lasst euch von Marie etwas zu essen geben«, sagte ich schnell. Dann beschloss ich, mit Julie zu sprechen. Zuerst einmal versuchten wir, den Inhalt des Schriftstückes, das im Amtsstil über ihr Schicksal bestimmte, zu verstehen. Julie warf die Kompressen ab und bohrte schluchzend ihr Gesicht in die Kissen. »Aber ich gehe nicht! Ich gehe nicht, ich gehe nicht … !«, schrie sie verzweifelt. »Mortefontaine können sie mir doch nicht nehmen! Désirée – du musst durchsetzen, dass ich in Mortefontaine bleiben kann. Mit den Kindern …« Ich streichelte das dünne strähnige Haar. »Du bleibst vorderhand bei mir. Später können wir versuchen, Mortefontaine zurückzufordern.Aber Joseph –? Wenn Joseph keine Aufenthaltsbewilligung bekommt, was dann?«
»Joseph hat mir aus Blois geschrieben. Er will in die Schweiz reisen und dort ein Gut kaufen. Und ich soll sobald als möglich mit den Kindern zu ihm kommen. Aber ich fahre nicht, ich fahre nicht!« Sie setzte sich plötzlich auf: »Désirée – du wirst mich nicht im Stich lassen, du bleibst bei mir, bis alles geordnet ist, nicht wahr?« Ich nickte. »Du fährst nicht nach Schweden, sondern bleibst hier – hier in deinem Haus, ja? Und hilfst mir?« Ich habe sie mit den Bonapartes zusammengebracht, ich bin schuld daran, dass sie jetzt kein Heim hat, ich muss ihr helfen, ich muss … »Versprichst du es mir?«
»Ich bleibe bei dir, Julie!«
An jenem Abend, an dem König Louis XVIII. den ersten Hofball in den Tuilerien abhielt, hatte ich Schnupfen. Natürlich keinen wirklichen Schnupfen. Ich legte mich nur so wie damals vor der Krönung Napoleons ins Bett und war eben krank. Marie brachte mir Milch mit Honig. Milch mit Honig schmeckt mir in jeder Lebenslage. Ich begann Zeitungen zu lesen … Der »Moniteur« beschrieb die Abreise Napoleons nach Elba. Am 20. April sind die Reisewagen im Hof des Cheval-blanc in Fontainebleau vorgefahren. Kein einziger Marschall war anwesend. Der General Petit hatte ein Regiment der kaiserlichen Garde im Hof versammelt. Der Kaiser erschien, und General Petit trat vor und hielt ihm einen der vergoldeten Adler entgegen. Napoleon küsste die Fahne, die unter dem Adler hing. Dann stieg er in einen Wagen, in dem der General Bertrand auf ihn wartete. Das war alles. Zumindest alles, was der »Moniteur« seinen Lesern berichtete. Im »Journal des Débats« dagegen fand ich einen interessanten Artikel über den Kronprinzen von Schweden. Ich las, dass der»Kronprinz die Absicht habe, sich von seiner Gattin Désirée Clary, der Schwester von Madame Julie Bonaparte, scheiden zu lassen«. Nach vollzogener Scheidung werde die ehemalige Kronprinzessin von Schweden unter dem Namen einer Gräfin von Gotland weiter in ihrem Heim in der Rue d’Anjou in Paris wohnen. Der Kronprinz dagegen – ich schluckte heiße Milch mit Honig – der Kronprinz dagegen hatte die Wahl zwischen einer russischen und einer preußischen Prinzessin. Sogar die
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