Deutsche Geschichte
unerlässliches Mittel zum Ziel. Ich gebe für einen solchen Mann der Tat hundert Männer der liberalen Gesinnung, der machtlosen Ehrlichkeit!«
Wie Professor von Ihering wurden viele Menschen von Gegnern zu Befürwortern der bismarckschen Politik. Und der preußische Landtag billigte nachträglich sogar das nicht verfassungsgemäße Handeln des Ministerpräsidenten. Immer mehr Deutsche sahen in ihm den Mann, der den alten Traum von der Einheit Deutschlands verwirklichen konnte.
Diese neue nationale Welle wollte Bismarck ausnützen und die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund verbinden. Als Mittel dazu diente ihm wieder ein Krieg, ein Krieg gegen den gemeinsamen Feind Frankreich. Durch geschicktes Taktieren erreichte Bismarck, dass Frankreich Preußen und damit auch seinen Verbündeten den Krieg erklärte und vor der Welt als Aggressor dastand.
Die nationale Begeisterung, die nun ausbrach, ähnelte der vor den Befreiungskriegen. Soldaten aus ganz Deutschland marschierten gegen Frankreich und schlugen die Franzosen am 2. September 1870 in der Schlacht von Sedan.
Nach diesem gemeinsamen Sieg war die Einheit Deutschlands näher als je zuvor. Die Menschen und die öffentliche Meinung gaben keine Ruhe mehr. In dieser nationalen Hochstimmung konnten sich die süddeutschen Fürsten und Regierungen Bismarcks Plänen und damit der Einigung letztlich nicht widersetzen. Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles der preußische König Wilhelm zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Das war die Geburtsstunde des Deutschen Kaiserreichs.
Endlich waren die Deutschen am Ziel ihrer Träume: Sie hatten einen Kaiser, ein Reich und drei Monate später auch eine Verfassung. Aber war dieses Kaiserreich wirklich das, wovon sie so lange geträumt hatten? Das neue Reich war ein Werk der Fürsten. Es gab zwar den von deutschen Männern in allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen gewählten Reichstag, aber der konnte letztlich nichts entscheiden. Und über die Regierung hatte er keinerlei Kontrolle. Sie war nur dem Kaiser verantwortlich. Er und der Reichskanzler bestimmten die Politik. Gleichzeitig waren sie König beziehungsweise Ministerpräsident von Preußen, das zwei Drittel des Reichsgebietes und drei Fünftel der Bevölkerung umfasste. Die wichtigsten Rohstoffgebiete und Industrien lagen in Preußen, und Preußen hatte die mit Abstand stärkste Armee. All das konnten der Kaiser und sein Reichskanzler, falls nötig, in die Waagschale werfen. Deswegen gab es nach dieser Reichsgründung auch sehr kritische Stimmen. »Maul halten – Steuern zahlen – Soldat werden!«, so brachten vor allem viele Süddeutsche ihre Meinung zu dem preußisch dominierten Kaiserreich auf den Punkt.
Sozialistengesetz und Sozialgesetze
Die Reichsgründung war eine Sache, die wirtschaftliche Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat war eine andere, für die Mehrzahl der Menschen in Deutschland noch viel einschneidendere Sache. Die zunehmende Industrialisierung nämlich veränderte die Arbeits- und Lebensbedingungen radikal. Sie machte aus den meisten Bauern Industriearbeiter, aus Landbewohnern Stadtmenschen. Wohnung und Arbeitsplatz wurden getrennt, die überlieferte Form der Großfamilie löste sich in den Städten langsam auf. Alles war in Bewegung.
Die Städte explodierten förmlich. Hatte Berlin 1850 noch etwa 400 000 Einwohner, so waren es um 1900 schon 2 Millionen. In Hamburg schnellte die Einwohnerzahl von 130000 auf 700000 hoch. So ähnlich war es auch in anderen Städten. Der Wohnungsbau konnte da nicht mehr mithalten. Als Folge stiegen die Mieten so kräftig, dass viele Zuwanderer sie nicht bezahlen konnten. Die bauten dann an den Stadträndern Bretterbuden für ihre Familien. Um diese Zeit entstanden die ersten »Mietskasernen«, in denen Arbeiterfamilien auf engstem Raum leben mussten. In Berlin hatte die Hälfte aller Familien nur einen Raum von 4 Metern Länge und 3,60 Metern Breite. Weit über 100000 Menschen hausten in feuchten, ungesunden Kellerwohnungen. Auf der anderen Seite wuchs der Wohlstand derer, die von der boomenden Wirtschaft am meisten profitierten: Fabrikanten, Industrielle und Bankiers. Auch den meisten Adligen ging es nach wie vor gut. Sie hatten weiterhin Führungspositionen beim Militär und im Staat, und viele besaßen zugleich Aktien von großen Unternehmen.
Die sozialen Gegensätze bargen eine Menge Sprengstoff für das Reich. Und Bismarck ahnte früh, dass mit fortschreitender
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