Deutsche Geschichte
Industrialisierung die Entstehung einer großen Arbeiterpartei unvermeidlich sein werde – wenn man ihr nicht durch Sozialreformen zumindest entgegenwirkte.
Diese Arbeiterpartei entstand aus dem am 23. Mai 1863 gegründeten »Allgemeinen deutschen Arbeiterverein« Ferdinand Lasalles. Seit 1875 nannte sie sich »Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands« und forderte »direkte Gesetzgebung durch das Volk«, eine »sozialistische Gesellschaft« und »die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit«. Obwohl mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht nur zwei Sozialdemokraten im ersten deutschen Reichstag saßen, nahm Bismarck die Arbeiterbewegung und ihre Partei sehr ernst. Und als sie 1877 bereits eine halbe Million Stimmen erhielt, wartete er nur noch auf eine Gelegenheit, die »Reichsfeinde«, wie er die Sozialisten nannte, auszuschalten. Nachdem zwei Attentate auf den Kaiser verübt worden waren, schlug Bismarck zu: Er legte ein »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vor, das vom Reichstag mit großer Mehrheit angenommen wurde und am 21. Oktober 1878 in Kraft trat. Es verbot alle sozialistischen Vereine, Versammlungen und Zeitungen. Obwohl sich bald herausstellte, dass die Sozialdemokraten mit den Attentaten nichts zu tun hatten, blieb das »Sozialistengesetz« bis 1890 in Kraft. Allerdings brachte es nicht den gewünschten Erfolg. Die Sozialdemokratie arbeitete im Untergrund weiter und blieb als politische Kraft erhalten. Als sie 1890 wieder zu den Wahlen zugelassen wurde, erhielt sie die meisten Wählerstimmen. Bismarcks Politik der Ausgrenzung der Arbeiterpartei aber wirkte lange nach. Sie verhinderte letztlich die Integration der Arbeiterschaft in den Staat. Daran änderte auch die für die damalige Zeit vorbildliche Sozialgesetzgebung – Versicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität – nichts, mit der Bismarck die Arbeiter für den Staat zu gewinnen suchte.
Noch heute gehen die Meinungen über den »Eisernen Kanzler«, wie Bismarck genannt wurde, auseinander. Von manchen wird er als genialer Politiker und Reichsgründer verehrt. Andere halten ihn für einen skrupellosen preußischen Junker, der für die Erreichung seiner Ziele über Leichen ging. Tatsächlich war er beides.
Die gute alte Zeit?
Trotz der industriellen Revolution und der Modernisierung aller Lebensbereiche glich der Gesellschaftsaufbau des Kaiserreiches nach wie vor der mittelalterlichen Ständeordnung:
An der Spitze stand der Kaiser. Dann kam der Adel. Zu ihm traten die reichen und wirtschaftlich einflussreichen »Großbürger«, die den Lebensstil des Adels nachahmten und sich bemühten, einen Adelstitel zu erwerben. Ein »von« vor dem Namen bedeutete gesellschaftlichen Aufstieg.
Den zweiten Stand bildete das so genannte »Besitz- und Bildungsbürgertum»: Kaufleute, Fabrikanten, Bankiers sowie Ärzte, Juristen, Professoren und Gymnasiallehrer. Um standesgemäß auftreten zu können, gaben sie viel Geld aus und manche lebten dabei auch über ihre Verhältnisse.
Unter ihnen gab es noch, ebenfalls zum zweiten Stand zählend, die »Kleinbürger«: Handwerker, kleine Kaufleute, Beamte und Angestellte in Handel, Dienstleistungsgewerbe und Industrie. Sie orientierten sich nach oben, obwohl sie dort nur belächelt wurden, und grenzten sich nach unten scharf ab. Sie wollten keinesfalls zum dritten Stand gerechnet werden, auch die nicht, denen es materiell kaum besser ging als vielen Arbeitern. Die nämlich bildeten, zusammen mit den Bauern, diesen untersten, dritten Stand.
Wie im alten Preußen kam es auch im neuen Deutschen Reich zu einer Militarisierung aller Lebensbereiche. Wenn sich ein Mann um eine Anstellung bewarb, lautete die erste Frage: »Ham se jedient?« Wer nicht gedient hatte, konnte auch bei den besten Empfehlungen meistens gleich wieder »abtreten«.
»Ein junger Kaufmann will bei uns nicht aussehen wie ein junger Kaufmann, sondern wie ein Leutnant in Zivil. Und ein Jüngling allerbürgerlichster Herkunft schafft sich, wenn er Ehrgeiz hat, zunächst ein Monokel an und dann diesen imponierenden königlich-preußischen Schnarrton«, sagte der SPD-Abgeordnete Wendel im Reichstag. Diese Zeit haben Heinrich Mann in Der Untertan und Carl Zuckmayer in seinem Hauptmann von Köpenick treffend beschrieben.
Dem Aufbau der Gesellschaft entsprechend gab es in Preußen das Dreiklassenwahlrecht (jede Klasse konnte ein Drittel der Abgeordneten wählen), und im ganzen Reich
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