Deutsche Geschichte Von 1815-1870
begeistert, einer Nation, einem Theile der Menschheit, möglich sein wird. Wer diese Zeit nicht selbst mit vollem Bewußtsein durchempfunden, kann sich nicht leicht eine Vorstellung davon machen, welche Seligkeit auf eine kurze Minute jede Brust durchbebte. – Wir haben Aehnliches bei den Siegen von 70 und 71 erlebt, aber es reicht doch nicht an das heran, was damals aus einen
unvergeßlichen Augenblick
das deutsche Herz durchzuckte. Es war, als ob wirklich mit einem Zauberschlage ein goldnes Zeitalter der Menschheit angebrochen wäre, als ob ein ewiges Band der Liebe, des Friedens, des Einverständnisses alle Geister vereinigen werde, als ob Schiller's Wort: Seid umschlungen Millionen! eine Wahrheit geworden! Jeder Groll, jeder Hader waren vergessen, Freund und Feind umarmten einander, ja, es gab eine Sekunde lang keinen Raum mehr für das Böse und das Schlechte. Von den Kerkern fielen die Schlösser und Riegel, aus den entferntesten Gegenden kehrten die seit langen Jahren Verbannten freudestrahlend zurück zu der geliebten Heimatherde! – Man mußte eben zuvor den ganzen Schmerz, die ganze Schmach und Schande der vorhergehenden Jahre in sich aufgenommen und durchgekostet haben, um jetzt die heiligste Freude zu empfinden, über diesen plötzlichen Sieg des Wahren, Guten und Gerechten über Tyrannei, Lüge, Heuchelei und Gemeinheit. – Hätte man nur über diesen idealen Schwung, der uns ja aber Alle erfaßt hatte, die Wirklichkeit nicht zu sehr aus dem Auge gelassen, oder hätte ein Gott die Welt eine Stunde lang können stille stehen machen, um sie zuerst wieder neu einzurichten! Wie sollten die neuen Ideen Gestalt und Leben annehmen, während überall die alten Formen noch aufrecht standen, die alten verknöcherten Kräfte wirksam und thätig blieben, der alte Geist nur einen Augenblick gebannt, doch noch lange nicht erstorben war, und nach dem Gesetze der Trägheit und Gewohnheit bald wieder seinen früheren Platz einnahm. Es erging fast jedem Einzelnen in der Nation, wie dem Könige von Preußen. Er wollte sich an die Spitze Deutschlands stellen, aber keinem Fürsten ein Haar krümmen, so wollten auch Alle das Bessere, aber Niemand sollte irgend etwas dabei verlieren. Um dieses Chaos zu lichten, zu ordnen, der jungen Freiheits-Pflanze nun erst Luft und Licht zur Weiterentwicklung zu schaffen, dazu bedurfte es fast übermenschlicher Kräfte, jedenfalls gehörten die genialsten, die umsichtigsten, die entschlossensten Staatsmänner dazu. Wo aber sollte man sie in Deutschland, das seit Jahren keine großen Männer aufkommen ließ, finden? Leider nirgends! Auch sie mußten erst erwachsen und erzogen, mußten stark und unbeugsam werden durch die nun erst recht beginnenden, neuen und langwierigen Kämpfe, denn unter geistigem Druck verkümmert ein Volk, erst die Bewegung, der Streit macht seine Bürger kräftig und klar. Wir mögen es so recht an diesem Beispiel erkennen, wie die Menschheit, selbst bei ihrem höchsten Aufschwunge, noch unter der Gewalt und Nothwendigkeit des Naturgesetzes steht, welches niemals mit
einem Zauberschlage
neue, vollendete Bildungen hervorruft, sondern diese erst aus den kleinsten Anfängen sich allmählich heraus entwickeln läßt. Wir dürfen darum diese ganze glorreiche Revolution von 1848 heute nicht anders betrachten, als wie die erste
Keimzelle
unserer endlichen Einheit und Freiheit, aber in dieser ersten
Zelle
, in diesem ersten
organischen Keime
war schon
Alles und Alles
enthalten; er wuchs und entfaltete sich, er grünte und knospte, bis er unter Regen und Sonnenschein zum jungen Baume wurde, der seine Zweige jetzt über uns breitet, und den zu hüten und zu pflegen, damit er die noch fehlenden Blüthen treibe, die höchste Aufgabe der Nation für ihre Gegenwart und Zukunft ist. Von diesem Standpunkte aus werden wir denn nun auch die nun folgenden Ereignisse betrachten, weniger die einzelnen Menschen und Träger der Politik, als die Verhältnisse anklagend, denen Jene oft nicht gewachsen waren und es auch häufig nicht sein konnten. –
Wenn wir uns nun wieder den laufenden Ereignissen zuwenden, so ist es zunächst der unglückliche und auf seiner Eschenheimergasse ganz erstarrt dasitzende Bundestag, der unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man mochte jetzt das Dichterwort auf ihn beziehen: »Wo Alles liebt, kann Karl allein nicht hassen!« Er wurde plötzlich über Nacht ungeheuer liberal: ließ deutsche Fahnen auf dem Dache wehen und die Herrn Gesandten schmückten sich
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