Deutsche Geschichte Von 1815-1870
Gebieterisch verlangte jetzt die Menge, daß der König herabsteige in den Schloßhof und den gefallenen Söhnen des Vaterlandes seine Achtung bezeuge. Es war eine furchtbare Rache, die das Volk an seinem Königshause nahm, welches es einst so heiß geliebt, das ihm aber so lange ausgewichen war, und ihm statt des Brodes einen Stein gegeben hatte! Der König schwankte die Treppe herab, er entblößte sein Haupt vor den Leichen, er neigte sich vor ihnen, und die Königin, die dem Gemahl gefolgt war, die ihn in dieser schweren Stunde nicht verlassen wollte, sank ohnmächtig zusammen. – Nachdem man so die Herrscher genugsam gedemüthigt, wurden die Leichen bis zu ihrer Bestattung in die Werder'sche Kirche gebracht. Diese Scene hinterließ einen mächtigen Eindruck, die Minister verkündeten jetzt laut, es werde Alles geschehen, was das Volk wünsche, und der König erklärte bald darnach einer in den Lustgarten zusammenberufenen Bürgerversammlung feierlichst: »Ich lege die Bewachung und die Sicherheit Berlins in die Hände der Bürger; ebenso mein Leben und meine Sicherheit, wollen sie sich bewaffnen, so sollen ihnen die Militär-Waffenvorräthe ausgeliefert werden!«
Im Nu war nun eine bewaffnete Bürgerwehr gebildet; am Abend desselben Tages illuminirte man die Stadt und die Bürgerwehrmänner, jetzt wieder ganz loyal gesinnt, riefen: »Wer nun unserm König ein Haar krümmen will, dem schlagen wir die Knochen entzwei!«
Aber dies Alles konnte den Eindruck nicht verwischen, daß der Bogen überspannt gewesen; Friedrich Wilhelm konnte nach solchen Vorgängen nicht gut mehr König bleiben. Entweder mußte die Volksparthei weiter gehen und ihn zur Abdankung nöthigen, oder er mußte es aus freier Entschließung thun, wie König Ludwig von Baiern. Nichts von Beiden geschah; auch in Berlin blieb die Bevölkerung trotz ihres Triumphes vor dem Throne stehen, man bildete sich ein, der gedemüthigte Manarch sei jetzt ein Anderer geworden und er selbst theilte vielleicht diese Vorstellung. Im innersten Herzen aber konnte er nun und nimmermehr vergessen, wie tief er einen Augenblick von seiner gottbegnadeten Höhe herab gesunken war. Friedrich Wilhelm war kein Engel, sondern ein Mensch und Niemand kann es ihm verargen, wenn er von da an die Revolution, die Volkssouveränetät und Alles, was damit zusammenhing, noch tödtlicher haßte als zuvor – dies war ein großes Unglück, für Preußen nicht allein, sondern für die ganze deutsche Nation. – Des Königs Bruder, der Prinz von Preußen, der jetzige Kaiser, der wunderbarer Weise die Früchte jener furchtbaren Tage ernten sollte, war vor dem Unwillen des Volkes nach England geflohen, von wo aus er, wie verbürgte Quellen melden, die Situation Preußens und dessen Mission im rechten Lichte zu sehen begann, um so mehr, als seinem entschlossenen Wesen schon früher der Gedanke nahe lag, Preußen könne im nationalen Sinne wirken. Schon gleich nach dem Sturze Louis Philipp's hatte er gewollt, sein Bruder solle sich an die Spitze der deutschen Ereignisse stellen. Am 20. März erschien die Erklärung einer allgemein erwarteten Amnestie für alle politischen Gefangene und Verbannte; sie kam namentlich den Polen zu Gute, deren, von Unruhen in Posen her, über 90 verhaftet waren. Sie wurden jetzt im Triumph in der Stadt herumgeführt und getragen, Lebehochs ertönten auf die deutsche und die polnische Freiheit, und dann begab man sich wieder vor das Schloß, auch dem König ein Lebehoch zu bringen, wobei der polnische General Mieroslawsky auf einem Wagen stehend, eine deutsche Fahne schwang. So träumte man auch in Berlin im ersten Freudenrausche von einer totalen Umkehr der Zeit, einer Tilgung jeder staatsmännischen Ungerechtigkeit. –
Selbst der König sollte, trotz des Gräßlichen, was er erlebt, den allgemeinen Ueberschwung der Gefühle theilen, hatte er ja auch kaum Zeit, um ruhig wieder zu sich selbst zu kommen. Auch scheint es, als ob das drängende Gefühl, seine Würde einigermaßen zu retten, ihn nun veranlaßte, auch irgend
Etwas
selbstständig zu thun, wozu ihn Niemand zwang, und was als sein eigenster Entschluß gelten konnte. –
In der Nacht des 20. März bemächtigte sich seiner Seele die Vorstellung, durch seine Hand ein
geeinigtes Deutschland
zu schaffen, ein Gedanke, der in der That. wenn er ihn auszuführen muthig genug war, ihm die ganze Nation wieder versöhnen, ihm selbst das Gefühl seiner Würde zurückgeben konnte. Höchst überraschend erschien am
Weitere Kostenlose Bücher