Deutsche Geschichte Von 1815-1870
ausbreiten und entwickeln. –
Auch die philosophischen und religiösen Theorien St. Simon's und Fourier's sind nicht ganz untergegangen; ein Schüler des Ersteren,
Auguste Comte
, hat in Paris die sogenannte Schule der
Positivisten
gebildet, deren Grundsatz folgendermaßen lautet:
Vivre pour autrui
, Leben für Andre. Man nennt sie darum auch
Altruistes
. Nur das Positive als richtig anerkennend, nimmt diese Gesellschaft gegenüber jeder religiösen Ueberlieferung eine verneinende Stellung ein. Während sie aber das christliche Dogma verwarfen, schufen sie sich in eigenthümlicher Weise ein Anderes, welches an die altpersische Religion erinnert. In der Voraussetzung, daß jeder Mensch einen besonderen Schutzengel habe, der durch sein besseres Selbst repräsentirt werde, richten sie ihre Gebete an diesen Engel in der eignen Brust. –
Auch bei ihnen spielt die Frau eine hervorragende Rolle, indem ihr eine Art von Priesterschaft zugetheilt ist, die einen Nimbus der Ehrfurcht um sie her verbreitet. Sie hat eine bedeutende Mitwirkung bei Erziehung und Unterricht der Kinder, worüber gleichfalls ganz bestimmte Vorschriften bestehen. Jeder einzelne Mensch soll mit den verschiednen Altersstufen alle Phasen der Geschichte, namentlich des Glaubens, durchlaufen, welche die gesammte Menschheit bereits zurückgelegt hat. Das Kind, das mit der Puppe spielt, verkörpert die niederste Stufe der Gottesverehrung: den
Fetischismus
; dem Jünglinge dagegen bevölkert sich die ganze Natur mit Göttern, er ist Pantheist und sein Lehrmeister das alte Griechenland, und so geht es weiter fort, bis zu der Zukunfts-Religion des reinen Menschheitsdienstes, mit dem Motto: Vivre pour autrui! Heilig ist den Anhängern der Lehre das Angedenken ihres Stifters Comte, dessen Todestag jedes Jahr feierlich in Paris in dem Zimmer, das er bewohnte und das unverändert geblieben ist, begangen wird. In England hat Comte in den gebildeten Klassen einen bedeutenden Anhang und seine Lehre wurde besonders durch die bekannte Miß Martineau verbreitet. Sie sehen, wie diese letzten Ausläufer der communistisch-socialistischen Theorien am Ende doch, wenn auch noch wunderlich mit Dogmen verbrämt, den Boden der Wirklichkeit berühren und ihre Anhänger zu edelstem und aufopferndstem Handeln auffordern. Jeder, der nach dem Wortlaute der positivistischen Lehre auf allen Gebieten des Lebens für das Wohl seiner Mitgeschöpfe wirkt und schafft, der hat ihnen die wahren Heilsstätten des Socialismus und Communismus erschlossen, und in diesem Sinne sehen wir gegenwärtig Staatsmänner, Gelehrte, Industrielle, Volksvertreter und Frauen überall in lebhaftester Thätigkeit begriffen, ohne Dogma und ohne bindende Genossenschaft, weil der Geist lebendig geworden, der einst jene Theorieen erdichtete. –
Ich habe mir diese hoffentlich nicht unwillkommene Abschweifung erlaubt, um Ihnen an diesem Beispiel zu zeigen, wie die Zeit auch die ungenießbarsten Auswüchse des Menschengeistes heranreift, in so fern sie einen gesunden Kern enthalten, und wie Keiner, der historischen Sinn sich zu eigen gemacht, schlechthin das Neue, welches er noch nicht begreift, verwerfen, sondern vorher gründlich untersuchen soll. –
Kehren wir nun zu dem Gange der geschichtlichen Ereignisse zurück. Karl X. hatte sich am 29. Mai 1825 nach alter Sitte, unter Entfaltung einer ungeheuren Pracht, zu Rheims von dem Erzbischof von Paris krönen und salben lassen. Obgleich die Phiole, die das heilige Salböl enthielt, in der Revolution war zertrümmert worden, behauptete man doch in den Scherben etwas davon gerettet zu haben, und tief gebeugt, umgürtet mit dem Schwerte Karls des Großen, lag Karl vor der Priesterschaft im Staube. Nach vollbrachter Feier berührte er, einem alten Aberglauben gemäß, eine Anzahl Kropfleidender, die natürlich wieder mit ihren Kröpfen davongingen. Im nächsten Jahre sah Paris innerhalb sechs Wochen vier große Processionen, begleitet von dem Hofe, den Behörden und 2000 Priestern, die das Miserere sangen. Das gab reichlichen Stoff für den Witz, den Spott des Parisers, und für Béranger's satyrische Muse. Am Hofe wurde die alte Etikette Ludwigs XIV. wieder eingeführt; der fünfzigjährige Herzog von Angoulême legte sich den kindlichen Titel Dauphin bei, seine alten Kammerherrn und Stallmeister wurden wieder Edelknaben und Pagen genannt, und was dergleichen Unsinn mehr ist.
Hand in Hand damit gingen die Bemühungen, Frankreich gänzlich unter die Herrschaft der
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