Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
konnte es gar keine Aufwinde geben. Hätte er seine Künste dort demonstriert, wo er sie bereits erfolgreich getestet hatte, er wäre als Flugpionier gefeiert worden. Man weiß heute, warum er dies nicht getan hat: Die Stadtverordneten hatten es ihm verweigert, weil sie dem beleibten König den Weg vor die Tore der Stadt nicht zumuten wollten. Manchmal sind es eben nur Winzigkeiten, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Es musste dann noch fast ein Jahrhundert vergehen, bis Berblingers Traum vom Fliegen Wirklichkeit wurde. Otto Lilienthal aus dem preußischen Anklam, auch er ein Mann von Wagemut und Erfindergeist, gelangen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer verbesserten Flugmaschine Flüge von bis zu 250 Metern. Er war es dann auch, der den Titel «erster Flieger der Menschheit» davontrug.
Ein Erfinderschicksal von vielen. Doch davon lässt sich ein passionierter Tüftler nun wirklich nicht einschüchtern, und auch nicht von bürokratischen Hürden. Was verdankt die Welt nicht alles den Deutschen! Das Grammophon und den Verbrennungsmotor. Die Röntgenstrahlen und die Draisine. Den elektrischen Aufzug, die Aspirintablette und den Kreiselkompass. Die Zahnpasta, die Thermosflasche und den Schraubstollenschuh. Den Teebeutel und den Kaffeefilter. Das Heftpflaster und das Panzerfahrzeug. Die Trommelwaschmaschine und den Schnuller. Den Büstenhalter und das Latexkondom. Den Alleskleber und das Rasterelektronenmikroskop. Die Dauerwelle und den Kühlschrank. Den Airbag und die Raufasertapete. Den Computer und das Papiertaschentuch … Auch Erfindungen wie der Bunsenbrenner, das Telefon, die Glühlampe, die Elektrolokomotive und der Fernseher sind teilweise in Deutschland entstanden.
Auffallend viele dieser Erfinder stammen, wie der Schneider von Ulm, aus dem Schwabenland. Aber nicht nur dort, sondern auch in anderen Regionen des Landes gibt es helle Köpfe mit zündenden Ideen. Schließlich wird Deutschland heute auf der ganzen Welt für seinen Erfindergeist und die Zuverlässigkeit seiner Maschinen und Produkte geschätzt.
Das war allerdings keineswegs immer so. Im 19. Jahrhundert waren deutsche Produkte als zweitklassig verschrien, besonders in Großbritannien. Aufsehen erregte das harsche Urteil, das der deutsche Maschinenbauprofessor Franz Reuleaux als Preisrichter auf der Weltausstellung 1876 in Philadelphia fällte: Die dort präsentierten deutschen Waren seien «billig und schlecht». England war damals industriell am weitesten entwickelt und setzte die technischen Standards. Viele britische Unternehmer beschwerten sich über deutsche Produktpiraterie. Die in Deutschland billig nachgebauten Waren überschwemmten den britischen Markt. Dagegen wollte man etwas tun. Die britische Regierung verfügte im Jahr 1887, dass bei sämtlichen importierten Produkten das Herkunftsland anzugeben sei. So trugen die Waren aus Deutschland fortan den Stempel «Made in Germany». Dies, glaubte man, sei ein wirksames Mittel, um die Käufer abzuschrecken und sie dazu zu bewegen, britische Waren zu kaufen.
Es kam bekanntlich anders. Die vernichtende Kritik des deutschen Preisrichters in Philadelphia war auch in Deutschland nicht ungehört geblieben. Man besann sich auf Qualität, stellte von der Billigproduktion auf hochwertige Waren um – und exportierte mehr als je zuvor. Auf einmal stellte man in Großbritannien fest, von wie vielen deutschen Waren man umgeben war: «Durchstreift das ganze Haus und die verhängnisvolle Marke blickt euch aus jedem Winkel an, vom Flügel in eurem Wohnzimmer bis zum Kruge auf eurem Küchenschrank», stellte der englische Journalist E. E. Williams 1896 fest. Auf Kleiderstoffen, Spielsachen, Gartenspritzen, Schüreisen, Bleistiften: Überall prangte der Schriftzug «Made in Germany». Und damit nicht genug: «Um Mitternacht kommt eure Frau aus der Oper nach Hause, die ‹made in Germany› ist. Die Oper wurde aufgeführt von Regisseuren, Sängern und Schauspielern, die aus Deutschland stammen, die Saiten- und Blasinstrumente des Orchesters waren ‹made in Germany›. Ihr geht zu Bett und starrt wütend auf einen Spruch an der Wand. Er ist mit einer englischen Dorfkirche geschmückt und war ‹printed in Germany›. Neigt ihr zu Phantasien und Alpdrücken, so werdet ihr träumen, wie St. Peter mit einem regelrecht gestempelten Heiligenschein um sein Haupt und einem Bund Schlüssel aus dem Rheinland in der Hand euch den Eintritt ins Paradies verweigert, weil ihr nicht das Zeichen des
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