Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Beweis der neuen Staatsdoktrin der Bescheidenheit. Niemand konnte sie besser verkörpern als Theodor Heuss, der erste Präsident der Republik. Und in Willy Brandts Kniefall in Warschau fand sie einige Jahrzehnte später ihren wohl bewegendsten Moment. Die Vision der Wiedervereinigung Deutschlands verschmolz in der Vision eines vereinten Europas.
Doch die Geschichte geht bekanntlich ihre eigenen Wege. Nach der unverhofften Wiedervereinigung Deutschlands sollte es eine Weile dauern, bis den Regierenden klarwurde, dass der neue, größer gewordene und nunmehr souveräne Staat nicht nach der Maßgabe der einstigen Bonner Republik geführt werden konnte. In die Nische, in der man sich eingerichtet hatte, wehte plötzlich ein rauer Wind, und die Bescheidenheit als Staatsdoktrin hatte ausgedient. Vom bevölkerungsreichsten Land Mitteleuropas erwartete man innerhalb und außerhalb des Kontinents eine aktive Rolle im Konzert der Völker und Nationen, und von nicht wenigen wurde das sogar gefordert. Mir scheint, dass Deutschland diese neue Rolle auch heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Vereinigung, noch nicht ganz gefunden hat – und vielleicht muss sie sogar in dem Prozess der rapid fortschreitenden weltweiten Veränderungen immer wieder aufs Neue bestimmt werden. Gewiss: Mit der Tugend der Bescheidenheit lässt sich kein Staat führen, aber ich würde mir wünschen, dass die Regierenden in Berlin sich auch in Zukunft der Verantwortung, die aus der wechselvollen Geschichte des Landes resultiert, bewusst bleiben – und dass Deutschland für die anderen Nationen in Europa und auf der Welt auch zukünftig ein offenes Ohr hat und ihnen auch weiterhin ein guter Nachbar bleibt – ohne Großspurigkeit, aber auch ohne falsche Bescheidenheit.
Die falsche Bescheidenheit gibt sich, wenn man genau hinhört, ohnehin meist selbst zu erkennen, im Großen und erst recht im Kleinen. «Machen Sie sich meinetwegen keine Umstände!» Einen solchen Satz werden die meisten schon einmal aus dem Munde eines Gastes gehört haben. Dabei wollte man sich doch gerade Umstände machen, als man den festlichen Abend vorbereitete, den Tisch herrichtete und ein besonderes Essen servierte. Sonst hätte man auf die Einladung ja auch verzichten können. Ähnliches gilt für den Satz, den wohl die meisten schon einmal aus dem Mund eines Gastgebers gehört haben: «Das wäre doch gar nicht nötig gewesen!» Doch, es ist nötig gewesen, man will sich schließlich mit dem kleinen Geschenk, das man mit Bedacht ausgesucht hat, für die Einladung und die erwiesene Gastfreundschaft bedanken.
Grundsätzlich ist bei jemandem, der sich selbst als einen bescheidenen Menschen bezeichnet, ein Stirnrunzeln durchaus angebracht. Was will er seinem Gegenüber denn überhaupt sagen, wenn er einem solches offenbart? Dass in seinem Hause kein Champagner serviert wird – ganz egal ob die Nachbarn von gegenüber oder der Kaiser von China zu Besuch sind –, sondern stets nur der erstbeste Wein aus dem Supermarktregal? Hinter der Berufung auf die Bescheidenheit lauert das Laster des Geizes, unter dem Namen Habgier als eine der sieben Todsünden bekannt. Ich habe dieses Laster in Deutschland und auch anderswo übrigens so gut wie nie bei armen Leuten kennengelernt, wohl aber bei Leuten, die sich um ihren Wohlstand gewiss keine Sorgen zu machen brauchen. Der wahrhaft Bescheidene wird das Wort Bescheidenheit im Hinblick auf sich selbst gar nicht erst in den Mund nehmen. Auch Kleinmut kann eine Form des Hochmuts sein. Ein altes jüdisches Sprichwort lautet: «Mach dich nicht so klein, so groß bist du doch gar nicht.» Das ist eine Weisheit, mit der man recht gut durchs Leben gehen kann.
Auf der anderen Seite scheint der Parvenü, der unverhohlen mit seinem frisch gewonnenen Reichtum prahlt und ebenso mit seiner Unkultiviertheit und Unbescheidenheit, in letzter Zeit ziemlich aus der Mode gekommen zu sein. Helmut Dietl hat ihm in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in seiner Fernsehserie Kir Royal ein bleibendes Denkmal gesetzt – in der Gestalt des Großindustriellen Heinrich Haffenloher, umwerfend verkörpert von Mario Adorf: Alles hat er erreicht in seinem Leben, der große Generaldirektor, den es vom Rhein in die bayerische Hauptstadt verschlagen hat, und jetzt möchte auch er endlich einmal «die Sau rauslassen» und mit der Schickeria zusammen auf den Tischen der angesagten Münchner Restaurants Cancan tanzen. Vor allem aber will er sich am nächsten Tag inmitten
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