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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Wolfgang Vogel ihm regelmäßig eine Portion Kassler mit Sauerkraut im Henkelmann.
    Man kann also auch mit bescheidener Kost maßlos sein, wie man es noch heute in manchen protestantischen Regionen beobachten kann. Luther war kein Lutheraner, aber manche derer, die sich auf ihn beriefen, stellten das Essen mit Genuss unter Generalverdacht. Man darf und soll sich satt essen, aber es darf dabei nicht verschwenderisch zugehen. An solchen Tafeln fällt dann gerne einmal der Satz: «Wir sind nicht so fein!» Aber vielleicht ist, was das Maßhalten anbetrifft, der Katholizismus mit seinem gesunden Rhythmus von Genuss und Verzicht, von Karneval und Fastenzeit, dem Protestantismus gegenüber doch im Vorteil. Denn dort, wo es keine Fastenverbote und keine Beschränkungen des Speiseplans mehr gibt, gibt es auch kein geduldetes Über-die-Stränge-Schlagen mehr. Wer täglich und immerdar mäßig, nüchtern und züchtig sein soll, dem fällt das Maßhalten schwerer als dem, der auch einmal fünfe gerade sein lassen darf. Denn darin besteht ja gerade der Sinn alles Fastens: Mit der «Heiterkeit des Herzens» auf etwas verzichten zu können, um sich die Freiheit der Seele zu bewahren. Und in der Zeit, in der einem dies schwer zu werden beginnt, besinnt man sich auf das Bibelwort: «Wenn ihr fastet, dann macht kein finsteres Gesicht!» (Matthäus, 6,16).
    Ich weiß, wovon ich rede: Die Äthiopier gehören zu den größten Fleischessern der Welt, sie verzehren es mit Freude und in jeglicher Form, gerne auch roh. Aber kaum irgendwo auf der Welt dauert die Fastenzeit so lange wie in der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. Es gibt die große Fastenzeit vor Ostern, die traditionell zwei Monate dauert. In dieser Zeit soll man nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf Milch- und Eierprodukte verzichten. Daneben gibt es die kleine Fastenzeit im August – zum Gedenken an Mariä Entschlafung. Außerhalb dieser Fastenzeiten gilt Woche für Woche nicht nur der Freitag, der Tag der Kreuzigung Christi, als Fastentag; auch am Mittwoch, dem Tag, an dem Jesus verraten wurde, soll kein Fleisch auf den Tisch kommen. Somit sind es alles in allem fast zweihundert Tage im Jahr, die den Gläubigen zum Fasten auferlegt sind. Aber nicht jeder Fromme schafft es, einem solch strengen Regiment ununterbrochen Folge zu leisten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einmal in meiner Jugend zusammen mit einem Freund in Asmara im Restaurant C.I.A.O. saß. Es war Freitagmittag, der Kellner hatte mir gerade ein saftiges Steak serviert, als der Bischof von Tigray, Abuna Lukas, den Speisesaal betrat. Er sah mich, kam auf mich zu und hielt mir sein Kreuz zum Kuss entgegen. Dann sah er mit sorgenvoller Miene auf meinen Teller und sagte leise: «Was machst du hier, mein Sohn?» – «Eure Seligkeit, ich warte auf ein Wunder», entgegnete ich. Der Bischof runzelte die Stirn. «Auf was für ein Wunder?» – «Darauf, dass der liebe Gott dieses Stück Fleisch in einen Fisch verwandelt.» Er blickte mir in die Augen und antwortete: «Mein Sohn, ich sehe nur einen Fisch.»
    Bislang war hier nur vom Essen und Trinken die Rede, dabei ist die Mäßigung, verstanden im ursprünglichen Sinne, eine ganz und gar umfassende Tugend. Es handelt sich nämlich um die Kardinaltugend der temperantia. Die deutschen Übersetzungen «Maßhalten» und «Mäßigung» treffen ihre Bedeutung nur unzureichend. Deus temperavit corpus , heißt es im ersten Korintherbrief: «Gott hat den Leib gefügt, damit kein Zwiespalt im Leibe sei, sondern die Glieder füreinander Sorge tragen.» Es geht also gar nicht so sehr um das Sichzügeln und das Sich-an-die-Kandare-Nehmen, sondern um die zweckmäßige Einrichtung und die richtige Mischung des menschlichen Lebens: Darauf, dass wir uns von den irdischen Dingen nicht abhängig machen und uns unsere Freiheit und Heiterkeit des Herzens bewahren.
    Das ist leicht dahingesagt – inmitten unserer beschleunigten Welt des Überflusses und der allgegenwärtigen Verführungen. Wie soll man Maßhalten in einer Welt, in der jeder Bereich des menschlichen Lebens durch die Ökonomie verstanden werden will? In der alles der Kategorie des Marktes und der Nützlichkeit unterworfen wird? In der wir ständig erreichbar und ständig verfügbar sein sollen? In der unsere Wirtschaft und unsere Produktivität ständig wachsen sollen, wo doch inzwischen jedes Kind weiß, dass die Ressourcen der Erde endlich sind und wir in nicht allzu ferner Zeit an unsere Grenzen gelangt sein

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