Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Hälfte der Opernhäuser weltweit steht zwischen Aachen und Zwickau, München und Flensburg, einundachtzig an der Zahl. Gibt es überhaupt einen Menschen, der sie alle besucht hat? Ja, ein ebenso tapferer wie enthusiastischer Journalist und Opernliebhaber namens Ralph Bollmann. Er brauchte dafür – in seiner freien Zeit neben seiner Arbeit – mehrere Jahre, und er hat über diese Bildungsreise ein höchst anregendes Buch verfasst.
Bekanntlich handelt es sich bei dem Reichtum der Opern hierzulande um das Erbe der deutschen Geschichte und seiner Kleinstaaterei. Ein jeder Fürst – und mochte sein Territorium auch noch so zwergenhaft sein – wollte sich im Glanz der Kultur sonnen und schuf sich einen prächtigen Tempel für die Musik und das Theater. Doch nur bei rund der Hälfte der Musiktheater handelt es sich um ehemalige Hoftheater; die andere Hälfte sind Errungenschaften des Bürgertums, das mit den fürstlichen Höfen gleichziehen wollte und sich seine eigenen Bühnen schuf. Zum deutschen Fürstenstolz gesellte sich deutsche Bürgertugend. Mit den Konzerthäusern und Orchestern verhält es sich ganz genauso, und mehr noch: Viele der großen Orchester der «neuen Welt» wurden überhaupt erst auf Initiative deutscher Auswanderer gegründet.
Die ganze Welt beneidet Deutschland um diesen einzigartigen Reichtum, man muss nur einmal mit einem ausländischen Besucher sprechen. Aber wissen die Deutschen überhaupt, welchen Reichtum sie vor ihrer Haustür haben? Die Musikbühnen, Theater und Orchester haben im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen, Revolutionen und Inflationen überlebt und zwei Weltkriege obendrein. Und sie sind aus den Ruinen wiederauferstanden, weil sie im öffentlichen Bewusstsein als unverzichtbar galten. Jetzt auf einmal sollen sie entbehrlich und es soll – in einem der reichsten Länder der Welt – nicht mehr genügend Geld für sie da sein? Die Politikerin Antje Vollmer hat vor ein paar Jahren vorgeschlagen, die deutschen Bühnen zum UNESCO-Weltkulturerbe zu erklären. Aber wer weiß, vielleicht melden sich ja auch Bürgerstolz und Bürgertugend zurück und man macht es sich zur Aufgabe, den kulturellen Reichtum des Landes zu schützen und zu bewahren. Denn es geht ja gar nicht um eine elitäre Sache. In die Opern- und Konzerthäuser strömen Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft. In jedem Städtchen und jedem Dorf wird musiziert, gibt es einen Gesangverein und eine Blaskapelle, und sonntags im Gottesdienst singt der Kirchenchor. An Karfreitag erklingt Bachs Matthäuspassion , am Ostersonntag Händels Messias , an Pfingsten Haydns Schöpfung , am Reformationstag Mendelssohns Reformationssymphonie und zur Adventszeit das Bach’sche Weihnachtsoratorium . Und zu Beginn eines neuen Jahres wird Beethovens Neunte gespielt – eine Tradition übrigens, die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Sozialdemokraten und der Arbeiterbewegung begründet wurde: «Freude, schöner Götterfunken!», «Alle Menschen werden Brüder!» – Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein.
Als ich die Reihe der großen deutschen Komponisten Revue passieren ließ, fehlte – wie manch aufmerksamer Leser vielleicht bemerkt haben wird – ein Name: Richard Wagner. «Was halten Sie eigentlich von Wagner?» Diese Frage habe ich in den letzten vierzig Jahren in Deutschland viele Male gehört. Und mochte sie auch noch so beiläufig gestellt sein, die hochgezogenen Augenbrauen und die bohrenden Blicke des Fragenden ließen doch niemals einen Zweifel daran, dass es um eine höchst wichtige Angelegenheit ging, um eine Art Lackmustest für einen Liebhaber deutscher Musik. Die Antwort darauf fiel und fällt mir auch deshalb so schwer, weil man nie weiß, ob man gerade einen glühenden Wagnerianer vor sich hat oder einen ebenso glühenden Wagnerhasser; dazwischen gibt es ja kaum etwas. Für die Ersteren ist Bayreuth der Gipfel des musikalischen Glücks, und wer diesen nicht erklommen hat, meinen sie, der sollte gar nicht über Musik reden. Für die Zweiteren befindet man sich, wenn man sich mit Wagner angefreundet hat, längst auf einem gefährlich abschüssigen Weg, der geradewegs in den Schlund der Hölle führt. Man kann weder mit den einen noch mit den anderen vernünftig diskutieren, also antworte ich auf diese Frage stets höflich-ausweichend mit den Worten: «Bayreuth hebe ich mir für die zweite Hälfte meines deutschen Lebens auf.» Und solange die erste Hälfte noch andauert, erfreue ich
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