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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Orchesterprobe mit Liesl Karlstadt als bärtigem, wohlbeleibten Kapellmeister und Valentin als langnasigem Musiker, der den Dirigenten zurechtweist: «Die Krawatte steht Ihnen hinunterwärts!» Auch hier strebt zwangsläufig alles dem Misslingen zu, bis sich Valentin und Karlstadt ein Duell auf offener Bühne mit Fiedelbogen und Taktstock liefern. Wenn an dieser Komik etwas typisch deutsch genannt werden kann, dann vielleicht dies: Komik und Ernst liegen hier nah beieinander. Das erkannte auch Samuel Beckett, der auf seiner Reise durch Deutschland im März 1937 das Münchner Kabarett Benz besuchte, wo Valentin und Karlstadt zusammen auftraten. Er habe bei Valentin «viel und voll Trauer gelacht», schrieb Beckett später, und tatsächlich ist es nur ein kleiner Schritt von Karl Valentin zu Becketts absurdem Theater. Karl Valentin ist übrigens ein Beispiel dafür, dass der deutsche Humor längst auch jenseits der deutschen Grenzen geschätzt wird. Er ist in Südamerika ebenso populär wie in Frankreich oder auf Island. Wie aber funktioniert der berühmte Dialog über «Semmelknödel» und «Semmelnknödeln» im Isländischen?
    Beinahe hätte ich in meiner Liste der großen deutschen Humoristen einen vergessen: den unsterblichen Robert Gernhardt. Er wird eines gar nicht fernen Tages, da bin ich mir ganz sicher, zu den großen Klassikern der deutschen Literatur gehören. Schon heute können, was seine Volkstümlichkeit eindrucksvoll unter Beweis stellt, viele seine Gedichte auswendig – wie das von Basis und Überbau :
Die Basis sprach zum Überbau,
«Du bist ja heut schon wieder blau!»
Da sprach der Überbau zur Basis:
«Was is?»
    Auch auf die Frage Was ist Kunst? hat Gernhardt eine schlüssige, ebenso deutsche wie komische Antwort gefunden:
Kunst, das meint vor allen Dingen
andren Menschen Freude bringen
und aus vollen Schöpferhänden
Spaß bereiten, Frohsinn spenden,
denn die Kunst ist eins und zwar
heiter. Und sonst gar nichts. Klar?

Maßhalten
    E in Märchen der Brüder Grimm, das mir aus Kinder tagen in Erinnerung geblieben ist, ist die Geschichte Vom süßen Brei . Es erzählt von einem armen, frommen Mädchen, das allein mit seiner Mutter lebt, und beide müssen sie hungern. Im Wald begegnet es einer alten Frau, die dem Kind ein besonderes Töpfchen zum Geschenk macht. Beim Ruf «Töpfchen koch!» kocht es «guten, süßen Hirsebrei», so lange, bis man ruft: «Töpfchen steh!». Mutter und Kind essen sich satt, und von da an litten sie keinen Hunger mehr. Als die Mutter das Töpfchen dann einmal alleine ausprobieren will, fällt ihr das Zauberwort nicht mehr ein, mit dem das kochende Töpfchen zum Stillstand gebracht werden kann: «Also kocht es fort und der Brei steigt über den Rand heraus und kocht immer zu, die Küche und das ganze Haus voll, und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt’s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not und kein Mensch weiß sich da zu helfen.» Das Märchen geht dann doch gut aus: Als nur noch ein einziges Haus übrig ist, erscheint das Mädchen und stoppt den wallenden Brei: «Und wenn sie wieder in die Stadt wollten, haben sie sich durchessen müssen.»
    In der Nacht, nachdem ich das Märchen zum ersten Mal gehört hatte, lag ich in meinem Bett wach und sah die Lawine des Breis vor mir, wie sie Haus um Haus unter sich begrub – und ich fragte mich, welcher Herkules sich wohl durch solche Massen würde hindurchessen können. Und als ich später nach Europa kam, erschien mir das Märchen Vom süßen Brei wie eine Parabel auf die westliche Gesellschaft, in der man sich am allgegenwärtigen Überfluss satt gegessen hatte und die Illustrierten immer raffiniertere Diäten anpriesen, während in meiner Heimat Äthiopien gerade eine der schlimmsten Hungersnöte herrschte.
    Immer hat man zuviel oder zuwenig. Das richtige Maß wird nur selten erreicht, und ganz sicher ist das Maßhalten eine der Tugenden, die nur sehr schwer zu erlangen sind. Wer möchte schon, wenn er vor einer reichgedeckten Tafel Platz genommen hat, ausrufen: «Töpfchen steh!»?
    Schenkt man den reisenden Zeitgenossen Glauben, stand das Maßhalten in deutschen Landen lange Zeit nicht sehr hoch im Kurs. Machiavelli, der zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts durch Deutschland reiste, war erstaunt über den Überfluss an Brot und Fleisch, den er dort überall vorfand. Egon Friedell nennt in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit jenes Jahrhundert das «klassische Zeitalter des Fressens

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