Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
werden. Soll doch der andere damit anfangen – getreu der Devise: Jeder denkt nur an sich, nur ich denke an mich.
Im Begriff der Nachhaltigkeit erscheint die alte Tugend des Maßhaltens in neuem Gewand. Die weltweite Umweltbewegung hat in den letzten vierzig Jahren diese Gedanken ins öffentliche Bewusstsein gerückt, er ist in die Parlamente und die Regierungen eingezogen. Darauf hinzuweisen, dass Deutschland in dieser Bewegung stets den anderen Ländern vorauslief, hieße Eulen nach Spree-Athen tragen. Man darf also das Maßhalten mit Fug und Recht als eine deutsche Tugend betrachten. Ganz und gar nicht selbstverständlich allerdings erscheint mir die Bemerkung, dass es auch hier, bei den Appellen zum Maßhalten und zur Nachhaltigkeit, auf die Leichtigkeit des Herzens ankommt: Warum es mit übellaunigen Verdikten versuchen wollen, wo doch ein jeder mit ein bisschen Verstand im Nu einzusehen mag, was er gewinnt, wenn er sich von dem Glitter und Plunder der Konsumgesellschaft befreit.
Dazu freilich bedarf es eines Moments des Innehaltens. Auf das Erscheinen des Mädchens aus dem Märchen Vom süßen Brei , das uns das Zauberwort «Töpfchen steh!» zuruft, werden wir dabei wohl vergeblich hoffen. Wer nicht auf das Wunder des Märchens setzen will, kann sich an die Religion halten. Denn die stellt uns, um innezuhalten, ein altbewährtes Mittel bereit: den «Tag des Herrn». Alle drei großen Religionen des Alten Testaments kennen und schätzen ihn – die Juden seit zweitausendfünfhundert Jahren, die Christen seit zweitausend Jahren und die Muslime seit eintausendvierhundert Jahren. Für Erstere ist es der Sabbat oder Samstag, für Zweitere der Sonntag und für Letztere der heilige Freitag: Zuverlässig befreit er uns Woche für Woche aus dem Gefängnis der Zeit und der Zwecke – und gibt uns Gelegenheit, Maß zu nehmen und uns zu besinnen.
Musikalität
A n die Osternacht des Jahres 1959 erinnere ich mich heute noch so, als wäre es gestern gewesen. Mit der ganzen Familie waren wir damals von Addis Abeba nach Lalibela aufgebrochen, um in einer der berühmten Felsenkirchen das Osterfest zu feiern. Damals gab es in der ganzen Pilgerstadt noch kein einziges Hotel; es war üblich, dass jeder sein eigenes Zelt mitbrachte und in der Ebene zwischen den Tukuls, den traditionellen Hütten aus Holz und Stroh, aufschlug. So wuchs Lalibela an den Feiertagen regelmäßig zu einer riesigen Zeltstadt an. In jener Osternacht kamen wir, meine Eltern, meine Geschwister und ich, gegen drei Uhr morgens von der Osternachtmesse zurück. Es war eine laue Nacht, über unseren Köpfen leuchteten die Sterne und tauchten die imposanten Gotteshäuser aus rotem Tuffstein in fahles Licht. Überall flackerten Fackeln, und man hörte das Gemurmel der Pilger. Niemand wollte sich schon schlafen legen. Da ging mein Vater ins Zelt und holte das Grammophon nach draußen. Vorsichtig nahm er eine Schallplatte aus der Hülle, legte sie auf den Apparat und begann, die Handkurbel zu betätigen.
Es war die Krönungsmesse von Mozart. Die wunderbaren Klänge erfüllten die Luft, und wir lauschten andächtig. Nach wenigen Takten kamen die Menschen aus den umliegenden Zelten und Tukuls, um festzustellen, was für eine herrliche Musik dies war und woher sie wohl kam. Zu Hunderten strömten sie herbei und setzten sich zu uns ins Gras. Mit gespitzten Ohren und großen Augen hörten sie die göttliche Musik.
Musik kann kulturelle Grenzen überwinden, und erst recht gilt dies für die Musik Mozarts. Er spricht eine Sprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird – in Salzburg und Wien, London und Paris ebenso wie in Buenos Aires und Ottawa, Seoul und Tokio, Kapstadt und Lalibela. Bis heute ist Mozart mein Lieblingskomponist – und noch immer frage ich mich, wenn ich seine Musik wieder und wieder höre, aus welchen Quellen sich dieses Genie speiste. Woher nahm er die Lebensweisheit und Menschenkenntnis, die Leichtigkeit und die Tiefgründigkeit, die seine Schöpfungen auszeichnen? Ist eine ergreifendere Musik vorstellbar als die Arie der betrübten Pamina in der Zauberflöte : «Ach ich fühl’s, ich bin verloren ….»? Wer ist nicht gerührt, wenn der weise Sarastro zu seiner Arie ansetzt: «In diesen heil’gen Hallen/kennt man die Rache nicht …»? Wem kocht nicht die Empörung im Herzen, wenn er mitansehen muss, wie Zerlina, ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag, dem Schmeichler Don Giovanni auf den Leim geht: «Vorrei, e non vorrei, Mi trema un poco il
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