Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Teutoburger Wald mit seinen Cheruskern und weiteren verbündeten Stämmen einen Hinterhalt bereitet hatte. Dabei erwies sich bekanntlich nicht nur der römische Hilfsoffizier germanischer Abstammung als tückisch, der seinen Dienstherrn, das römische Heer, verraten hatte, sondern auch der deutsche Wald, der in jenen nassen Herbsttagen denkbar schlechte Bedingungen für eine ordentliche Feldschlacht bot, wie sie die Römer zu schlagen liebten. Heinrich Heine hat ihm ein dichterisches Denkmal gesetzt, von dem hier die ersten Strophen zitiert seien:
Das ist der Teutoburger Wald,
Den Tacitus beschrieben,
Das ist der klassische Morast,
Wo Varus steckengeblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,
Der Hermann, der edle Recke;
Die deutsche Nationalität,
Die siegte in diesem Drecke.
Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann,
Mit seinen blonden Horden,
So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr,
Wir wären römisch geworden!
Das traurige Schicksal, schon früh Teil einer Hochkultur zu werden, blieb den Deutschen damals erspart, und sie waren darüber so froh, dass sie fast eineinhalb Jahrtausende nach den Ereignissen im Teutoburger Wald begannen, aus diesem siegreich bestrittenen Gemetzel eine Art nationaldeutschen Gründungsmythos herauszuspinnen.
«Der Wald», so August Strindberg, «ist die Urheimat der Barbarei und der Feinde des Pfluges, also der Kultur.» Nicht so im Falle der Deutschen. Aus dem Wald, so scheint mir, ist buchstäblich die deutsche Kultur hervorgegangen, ein Blick auf die Namen der berühmten Dichter und Denker genügt: Oswald von Wolkenstein, Joseph von Eichendorff, Johann Gottlieb Fichte … In den böhmischen Wäldern schart Schillers Karl Moor seine Räuber um sich. In einer Waldhöhle kommt Wagners Siegfried zur Welt und wird darin aufgezogen; im Wald schmiedet er sich sein Schwert Nothung, und in einem «wilden Wald- und Felsental» findet Siegfried dann auch sein Ende. Im finstersten Winkel des Waldes ist die Wolfsschlucht angesiedelt, in der im Freischütz , der deutschesten aller Opern, der Jägerbursche Max den Bund mit dem Teufel schließt, um seine geliebte Agathe nicht zu enttäuschen. Zwischen dunklen Wäldern erheben sich in den Bildern von Caspar David Friedrich Kruzifixe, Kapellen und Madonnen-Statuen. «Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum …», «Der Wald steht schwarz und schweiget …», «Die Vöglein schweigen im Walde …» – ein jedes Kind kennt die Verse und Weisen auswendig, welche nicht nur die deutsche Seele in Schwingung versetzen. Von der «Waldeinsamkeit» singt ein Vogel in einem Märchen von Wilhelm Tieck, ein deutsches Wort, das sich in keine andere Sprache übersetzen lässt.
Wie sehr der Wald das deutsche Gemüt bewegt, wurde mir rasch bewusst, als ich im Jahre 1968 zum Studieren nach Deutschland kam. Während die Studenten in Tübingen und anderswo unter «Ho Chi Minh»-Rufen den Campus stürmten, erklang damals aus dem Radio die flehende Stimme der Schlagersängerin Alexandra: «Mein Freund der Baum ist tot./Er fiel im frühen Morgenrot.» In den gutbürgerlichen schwäbischen Wohnstuben begegnete mir damals verlässlich das immergleiche Bild eines röhrenden Hirschen, bisweilen zur Linken und Rechten von Geweihen umrahmt. Und dass man sich im Schwarzwald oder im Spessart tatsächlich verlaufen kann, erfuhr ich auf den ausgedehnten Waldwanderungen, die ich als Korpsstudent mit meinen Kommilitonen unternahm – von einem Naturfreundehaus zum nächsten, die einschlägigen Volks- und Wanderlieder auf den Lippen: «Wer hat dich, du schöner Wald/Aufgebaut so hoch da droben?/Wohl den Meister will ich loben/So lang noch meine Stimm erschallt/Lebe wohl, du schöner Wald …»
Auf diesen Wanderungen ist mir die deutsche Liebe zum Walde ein wenig vertrauter geworden. Und ich verstand, was in Eichendorff vorging, als er seine Mondnacht dichtete:
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst’.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Die mythische Verehrung von alten Bäumen ist aus vielen Kulturen überliefert. In meiner Heimat Äthiopien werden in bestimmten Regionen uralte Feigenbäume und Warkabäume als Zeichen der Hochachtung mit Flaschen und Girlanden behängt und die Äste mit Butter
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