Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
merkt.»
Mark Twain wiederum sah auf seinem Bummel durch Europa 1878 in Deutschland überall nur saubere Menschen: «In Frankfurt sind alle Leute sauber gekleidet, und ich glaube, wir bemerkten diese merkwürdige Tatsache auch in Hamburg und in den Orten entlang der Bahnstrecke. Selbst in den engsten, ärmsten und ältesten Vierteln Frankfurts war ordentliche und saubere Kleidung die Regel. Die kleinen Kinder beiderlei Geschlechts waren fast immer fein genug, um sie auf den Schoß nehmen zu können. Und was die Uniformen der Soldaten anbetrifft, so waren sie die Neuheit und Pracht in Perfektion. Keinerlei Schmutzfleck oder Stäubchen konnte man je darauf entdecken.»
Die Meinungen über die deutsche Sauberkeit gehen mithin auseinander, und man sollte dabei auch bedenken, dass regelmäßiges Sichwaschen und Baden in ganz Europa eine vergleichsweise späte zivilisatorische Errungenschaft darstellt. Wie wir aus den Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon wissen, wusch man sich in Versailles am Hofe des Sonnenkönigs höchst ungern, und Baden galt ganz allgemein als schädlich, da es «den Kopf mit Dämpfen» erfülle. Stattdessen behalf man sich mit Toilettenwässerchen und Parfümen. Liselotte von der Pfalz, die mit neunzehn an den Hof von Versailles kam, soll es mit dem parfümierten Puder derart übertrieben haben, dass die Dauphine in Ohnmacht fiel, wenn sie in ihre Nähe kam. Am Hofe Ludwigs XIV. wurden 274 Leibstühle gezählt; sie waren der königlichen Familie vorbehalten. Der Rest des Hofstaats nahm mit den öffentlichen Latrinen vorlieb, und manch einer erleichterte sich gleich in den Sälen und Gängen hinter den Vorhängen. «An eine schmutzige Sache kann ich mich hier am Hof nicht gewöhnen», klagte die bereits erwähnte Liselotte von der Pfalz im Jahre 1702, «nämlich dass alle Leute in den Galerien vor unsern Kammern in alle Winkel p------ und dass man nicht aus seinem Appartement gehen kann, ohne jemandes p---- zu sehen.» Immerhin besaß der Sonnenkönig in Versailles ein prächtiges Badezimmer mit einer Marmorwanne von drei Metern Länge. Sie soll aber höchst selten benutzt worden sein, und wenn doch, dann für die Wonnen des Badens zu zweit.
An deutschen Höfen ging es damals auch nicht anders zu, im Gegenteil: In keinem der Schlösser Friedrichs des Großen fand sich ein Bad, stattdessen verströmten Potpourri-Vasen aus Meissen in den Kabinetten ihre Duftwässerchen. Erst sein Neffe und Nachfolger auf dem Thron, Friedrich Wilhelm II., führte am preußischen Hof die Körpertoilette ein und ließ sich in seinem Prinzenpalais moderne Klosetts einbauen. Und wer heutzutage durch manche Viertel der deutschen Hauptstadt schlendert, dem mag der Gedanke beschleichen, dass es dort mit der Tugend der Reinlichkeit nach wie vor nicht zum Besten bestellt ist.
Muss man sich Württemberg mit seiner bis ins Jahr 1492 zurückreichenden Tradition der Kehrwoche vielleicht gar als eine einsame Insel der Reinlichkeit im deutschen Morast vorstellen? Man hüte sich vor Verallgemeinerungen. Die Klagen Liselottes von der Pfalz kamen mir in den Sinn, als mir eine Dame vor einiger Zeit erzählte, was ihr im Tübinger Gogen-Viertel widerfuhr. Sie hatte in den engen Gassen die Orientierung verloren und war unentschieden, welchen Weg sie nehmen sollte, als in einem Haus ein Fenster aufging und eine Frau herabrief: «Sia, do wird fei nirgends nobronzt!» Wer sich zu solch harschen präventiven Ermahnungen genötigt sieht, denke ich mir, muss wohl auch einen Anlass dafür haben.
Überhaupt hat, wer die Tugend der Reinlichkeit auf das Saubermachen und Putzen beschränkt, ihr wahres Wesen noch nicht einmal ansatzweise erfasst. Als Junge hörte ich von meiner deutschen Erzieherin das Kindergebet: «Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.» Auch die Reinlichkeit wurzelt im Religiösen – namentlich in der Unbeflecktheit Mariens. Die Immaculata bezieht sich, theologisch verstanden, keineswegs bloß auf die näheren Umstände der Empfängnis Mariens, die von der Befleckung, die diesem Vorgang natürlicherweise anhaftet, unberührt geblieben ist, sondern in viel umfassenderen Sinne auf die Person der Jungfrau Maria selbst: dass nämlich Maria von Anbeginn an frei gewesen ist vom Makel der Erbsünde. So betrachtet, stellt die Reinheit ein Ideal dar, dem keine sterbliche Seele je gerecht werden kann, sosehr sie sich auch bemühen mag. Kafka wusste darum, als er seiner Vertrauten Milena
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