Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Universität tobte damals der Aufstand der Achtundsechziger gegen die preußischen «Sekundärtugenden», und mit der Pünktlichkeit nahm man es in Stundentenkreisen ohnehin nicht sehr genau.
Ich habe die Pünktlichkeit eine Tugend genannt, denn das ist sie zweifelsohne. Es ist unhöflich, sich zu verabreden und sein Gegenüber warten lassen. Allenfalls die höherstehende Person darf sich verspäten, und selbstverständlich ist der Gastgeber vor seinen Gästen zur Stelle. Bei einer Essenseinladung ist Pünktlichkeit oberstes Gebot, ein gemeinsames Essen ist eine Zeremonie, die nicht beginnen kann, wenn nicht der magische Kreis geschlossen ist. Der Regisseur Max Ophüls, der für seine Unpünktlichkeit bekannt war, war einmal bei Fritz Kortner in Hollywood zum Abendessen eingeladen. Johanna Hofer, die Frau Kortners, hatte Ophüls gebeten, äußerst pünktlich zu sein, da ein besonders diffiziles Gericht gereicht werden sollte. Doch auch zu diesem Anlass kam Ophüls zu spät. Als man sich nach vielen Entschuldigungen endlich zu Tisch setzte, fragte Kortner seinen Gast: «Sagen Sie, haben Sie eigentlich jemals warm gegessen?»
Man kann für eine solche Reaktion Verständnis haben, und doch gilt: Ebenso sehr wie die Pünktlichkeit ist es eine Tugend, von der Unpünktlichkeit seiner Mitmenschen kein Aufhebens zu machen. Solange man miteinander in Gesellschaft umgeht, tut man besser daran, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass niemand sich aus bösem Willen eine Nachlässigkeit zuschulden kommen lässt. Auch wenn dies manchmal schwerfällt und einen der Eindruck beschleicht, dass das Heer der Unpünktlichen, die ihr Schicksal – eine steckengebliebene U-Bahn, ein Loch im Fahrradschlauch, die alltägliche Rushhour auf dem Stadtring – wie ein Karma vor sich hertragen, von Tag zu Tag größer wird.
Dass es selbst mit der preußischen Pünktlichkeit nicht mehr weit her ist, mag einem jeden klarwerden, den es heute in die deutsche Hauptstadt verschlägt. Oder ist es bislang nur mir aufgefallen, dass in Berlin kaum eine Uhr an öffentlichen Gebäuden und Plätzen die korrekte Uhrzeit anzeigt, wenn sie nicht ohnehin stillsteht? Ein Glückspilz, wem es unter solch widrigen Umständen gelingt, der Tugend der Pünktlichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen.
Reinlichkeit
E inige Wochen nachdem ich mein Studium in Tübingen begonnen hatte, war ich zum ersten Mal bei einem Kommilitonen zu Hause eingeladen. Als Corpsstudent teilte ich mir im Verbindungshaus auf dem Österberg ein Zimmer mit drei anderen «Füchsen»; der befreundete Kommilitone besaß eine kleine Einzimmerwohnung in einem Mietshaus mit mehreren Parteien. Als ich vor der Wohnungstür stand, sah ich am Türgriff ein Pappschild hängen, und darauf mit Filzstift in krakeligen Buchstaben die Worte geschrieben: «Große Kehrwoche». Ich fragte den Kommilitonen sogleich, was es denn damit auf sich hätte. Er war sichtlich verwundert, dass ich von diesem Brauchtum noch nichts gehört hatte, seufzte tief und setzte zu einer wortreichen Erklärung an.
Die Kehrwoche, das sei eines der heiligsten schwäbischen Rituale, dessen strikte Einhaltung von allen Hausparteien schärfstens überwacht werde. Dabei müsse man unterscheiden zwischen der «kleinen Kehrwoche» auf der einen und der «großen Kehrwoche» auf der anderen Seite. Die «kleine Kehrwoche», die er im wöchentlichen Wechsel mit seinen beiden Etagennachbarn zu verrichten habe, umfasse das Säubern des Flurs und des Treppenhauses bis zum nächsten unteren Stockwerk, inklusive Fenster. An der «großen Kehrwoche» wiederum hätten sich, ebenfalls im wöchentlichen Wechsel, alle Mietparteien zu beteiligen: Sie umfasse Kellerflur, Kellertreppe, Waschraum, Hauseingang, Müllbereich, Briefkastenanlage und Gehweg. Bei acht Parteien im Haus sei er turnusmäßig alle acht Wochen an der Reihe, und dieses Wochenende sei es nun wieder einmal so weit, woran das Schild an der Wohnungstür unübersehbar gemahne.
All dies, erklärte mir der Kommilitone geduldig, sei en detail im Mietvertrag festgelegt, sogar der Wochentag der Ausführung: und zwar der Samstag. Dies, wie er vermutete, um sicherzugehen, dass die korrekte Ausführung von der Vermieterin höchstselbst überwacht werden könne, die mit ihrem Mann eine der Wohnungen im Erdgeschoss bewohnte. Denn sobald im Treppenhaus das Klappern von Eimer und Wischmopp zu hören sei, öffne sich ihre Wohnungstüre und sie selbst stehe auf der Matte. Nach seinem Einzug habe sie ihn auch
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