Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Jesenká schrieb: «Schmutzig bin ich, Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so rein als die, welche in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang.»
Es war auch gewiss nicht der Gesang der Engel, der die Reinheit in die Sphären der Philosophie und der Politik herabtrug. Immanuel Kant suchte in seiner Kritik der reinen Vernunft nach Erkenntnissen, die ganz ohne den Rückgriff auf sinnliche Erfahrung zu erlangen seien. Im 19. Jahrhundert – dem Jahrhundert der Wissenschaft und des nationalen Erwachens – verbreiteten sich die Ideen von der Reinheit der Kultur und der Reinheit des Blutes: Die Identität eines Volkes und einer Nation, so der recht simple Gedanke, stelle sich dadurch ein, dass man sie von Vermischungen rein halte. Wer heute noch ernsthaft daran festhalten wollte, verkennt, dass die Vielfalt der Völker und Kulturen seit Anbeginn der Menschheit eine Folge ständigen Austausches ist. «Mir san mir», heißt es südlich des Weißwurstäquators, aber auch der stolze Stamm der Bayern ist bekanntlich im Lauf der Jahrhunderte aus einer Mischung von Römern, Kelten, Alamannen, Rätoromanen, Böhmen, Goten, Vandalen und Langobarden hervorgegangen. Und, wer weiß, vielleicht hat gerade dies die vielgepriesene Liberalitas Bavarica hervorgebracht. Manch kluger Kopf geht sogar so weit zu behaupten, dass das Aufeinandertreffen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen der Motor des menschlichen Fortschritts sei.
Das Ius Sanguinis, das Abstammungsprinzip, erhielt gleichwohl im Jahre 1913 im Deutschen Reich Gesetzeskraft. Fortan galt überall in Deutschland: Deutscher ist derjenige, der von deutschen Vorfahren abstammt. Die Nationalsozialisten haben den Gedanken von der Reinhaltung des Blutes als politische Mission verstanden: Die sogenannten Nürnberger Gesetze legten fest, dass nur «Staatsangehörige deutschen Blutes» Reichsbürger sein konnten, und in dessen Folge wurde den deutschen Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt. Dieser Ungeist gipfelte in der Perversion, all jenen das Lebensrecht abzusprechen, die man als «undeutsch» ansah.
Am Ius Sanguinis wollte indes auch die Bundesrepublik festhalten, und es hat die Integration der aus vielen Ländern nach Deutschland eingewanderten Menschen nicht unbedingt einfacher gemacht. Erst im Jahr 2000 wurde das strikte Abstammungsprinzip gelockert und durch Elemente des Ius Soli – des Geburtsrechts – ergänzt: Seitdem gibt es für in Deutschland Geborene der zweiten Einwanderergeneration die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft anzunehmen – allerdings nur zeitlich befristet bis zur Volljährigkeit. Dann wird auch ihnen das Bekenntnis zu einer Nation abverlangt.
Während also, historisch betrachtet, die säkularen Pfade der Reinlichkeitstugend zumeist auf den Holzweg führten, so gibt es doch eine Sphäre, in der sie bis heute strahlt und glänzt: Am 23. April 1516 erließ der bayerische Herzog Wilhelm IV. eine Verfügung, der zufolge in bayerisches Bier nur Hopfen, Malz und Wasser gehöre – die Geburtsstunde des bayerischen Reinheitsgebots. Im Jahre 1906 wurde es reichsweit im Deutschen Biersteuergesetz verankert, und kein Mensch in Deutschland – ganz gleich ob er ein gestandener Bayer, ein Preuße oder, wie ich, bloß ein «Reigschmeckter» ist – erwägt ernsthaft, es in Frage zu stellen. In all den Jahrhunderten des rasenden Fortschritts fand man an dieser Tradition nichts zu verbessern, und sie hat das deutsche Bier auf der ganzen Welt populär gemacht. Aber auch wenn diesem bei der Herstellung außer Hopfen, Malz und Wasser nichts beigemischt werden darf und es selbstverständlich pur am besten schmeckt: Selbst in Bayern trinkt man gerne mal ein «Radler» oder eine «Goaß», eine Mischung aus Cola und dunklem Bier. Nur dass man in Berlin auf die Idee gekommen ist, Bier mit Himbeer- und Waldmeistersirup zu mischen, das werden – Toleranz hin oder her – die Bayern den «Preißn» wohl nie verzeihen.
Sparsamkeit
D eutschland ist ein reiches Land, wer wollte das ernsthaft bestreiten. Besonders reich ist es mit Gedenk-, Erinnerungs- und Aktionstagen gesegnet – kaum anderswo kennt man so viele davon wie hier: Es gibt den Tag der Rückengesundheit (15. März), den Deutschen Kopfschmerztag (5. September), den Welttag des Tanzes (29. April), den Tag des Offenen Denkmals (zweiter Sonntag im September) und den Tag der Offenen Töpferei
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