Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation
die beiden Motti). Denn die gleichzeitige Generation ist ja deswegen, weil sie endlich den hundertsten Todestag eines Dichters zu begehen geruht, noch längst nicht einsichtiger oder kulturell reifer als ihre Vorgänger; Beweis : ihr Verhalten zu den zeitgenössischen Dichtern!
Was aber allenfalls bei dem Einzelnen noch lächelnd übersehen werden kann, wird unerträglich, wenn der Staat sich für befugt hält, nicht nur Werturteile über künstlerische Leistungen abzugeben, sondern unter skrupelloser Anwendung seiner Machtmittel diese »Richtung« fördert; dafür aber jene, mißliebige, gewaltsam unterdrückt; den Künstler direkt oder indirekt vertreibt, ja, ihn sogar hinrichten kann, wenn er nur mag! Man mache sich doch endlich von der – allerhöchsten Ortes freilich erwünschten – Einbildung frei, daß behördliche Stellen, und wenn sie zehnmal »Kultusministerien« sind, etwas von Kunst verstünden ! Man zerlege das Wort getrost in »Kultus«; also die Pflege der Staatsreligion (ein Verfahren, das freilich auch schon einseitig eine gewisse »Richtung« bevorzugt) – und »Ministerium«, oder die Bestellung von Aktenbeeten.
Das ewige Schulbeispiel für die absolute Ignoranz der Regierenden ist ja das Urteil des »großen« Friedrich über die Nibelungen:
»Meiner Einsicht nach sind solche nicht einen Schuß Pulver wert; und verdienten nicht, aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden. In meiner Büchersammlung wenigstens würde ich dergleichen elendes Zeug nicht dulden, sondern herausschmeißen.« Und auch diese Tradition hat nie einen Bruch erfahren: die Königin Luise und er lasen grundsätzlich nur Lafontaine, den »Wassermann«, nicht den unsittlichen Goethe; Hitler liebte abwechselnd Winnetou und die Lustige Witwe; und so weiter: man lasse doch endlich in Regierungs= und »ihnen nahe stehenden« Kreisen die blutig=tintigen Finger von der Kunst! Wenn nämlich Deutschlands Name in der übrigen Welt noch einigermaßen guten Klang hat, so ist das ja bekanntlich nicht seinen Politikern zu verdanken: im Gegenteil!! Sondern einzig und allein seinen Dichtern und Denkern. Anstatt also den zahllosen Heerscharen der Abgeordneten Immunität und Staatsgehälter zu verleihen, sollte man dergleichen doch lieber den so viel bescheideneren und vor allem unschädlicheren Künstlern zuwenden. Man : die Bundesregierung.
Aber wie oben ausreichend belegt, ist es leider unleugbar so : daß weder »Der Staat«, noch »Das Volk« das Notwendige von Kunst verstehen! Das Notwendige : das heißt hier : die Sichtung und Förderung des wertvollen Nachwuchses; sowie seine Beschützung vor Störungen durch Unberufene (nämlich Staat und Volk); und seine notdürftige finanzielle Sicherung. Nur der Künstler versteht etwas von Kunst! Alle Anderen sind hinter den Grenzpfahl zu treiben!
Sollte der oder jener uniformierte Junge mich eines Mangels an Patriotismus bezichtigen, so ist er zu fragen : Wer dient seinem Lande besser ? Der, der den Mut hat, die Wahrheit zu sagen; oder der, der die augenfälligsten Gebrechen mit patriotischer Lüge übertüncht ?!
Denn was treiben wir heute wieder, von oben wie von unten ?! : ich schlage die neueste Nummer des »Spiegel« auf: ich lese darin, daß Heinrich Böll im Begriff ist, nach Irland auszuwandern ! Warum wohl ?: ich sage Euch, trommelt nicht auf Eure Brüste, sondern schlagt an sie : warum wohl ??!!
»Immer schon haben wir eine Liebe zu Dir gekannt« : wir Dichter. : Zu Deutschland. : Hahaha!!
[1955]
»›WAHRHEIT‹ – ? «, seggt Pilatus, un grifflacht.
1
Eyn schön alt maulaufreißend Wort, zugegeben; aber : »›Wahrheit‹ – Was ist das ?«
Denn ich weiß es wirklich nicht. Mir kommt schon seit Jahrzehnten der Mensch wie eine Tierart mehr vor, (gar nicht erniedrigend gemeint; sondern ganz schlicht im Sinne einer biologischen Zurechtrückung der Tatbestände); ausgerüstet mit nicht übermäßig bewundernswerten Sinnesorganen zum Behuf des Broterwerbs; mit einem Gehirn, das sich den Raum auf 3 Dimensionen vereinfacht, während jeder bessere Mathematiker oder Astronom mir, ohne sich zu überanstrengen, nachweisen kann, daß er zumindest 4, vermutlich noch mehr, hat, sodaß also unsere simpelsten Sinneswahrnehmungen von vornherein nicht direkt ›falsch‹, aber nur eine Art Annäherung an die Wirklichkeit sein können. Nein : ›Wahrheit‹ ist nichts für uns; und Diejenigen, die behaupten, sie wüßten mehr davon, Die wissen am allerwenigsten (womit, ganz Recht,
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