Deutschland 2.0
Deutschland.
Noch ein paar Meter, dann hat er seine drei Koffer über die Demarkationslinie geschleppt. Thorsten Schilling schwitzt, es
istein heißer Tag. Die DD R-Grenzer lassen ihn anstandslos passieren, kontrollieren nicht mal sein Gepäck. Er schiebt seine Koffer über den Bahnsteig, steigt
unterirdisch in die West- U-Bahn um – und findet sich nach drei Minuten am U-Bahnhof Kochstraße, direkt am Checkpoint Charlie in Kreuzberg wieder. Die DDR, sein ganzes bisheriges 2 9-jähriges Leben, liegt hinter ihm, hermetisch abgeriegelt. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Jürgen, ein Freund aus Ost-Berliner Zeiten,
der bereits vor zwei Jahren ausreisen konnte, nimmt ihn nach einem Telefonanruf strahlend in Empfang. Bei ihm wird Thorsten
Schilling wohnen; in der Kreuzberger Manteuffelstraße, keine zwei Kilometer Luftlinie von der eben verlassenen Friedrichshainer
Wohnung entfernt.
Die erste Nacht im Westen geht nicht zu Ende. Es ist lange hell und auch um Mitternacht noch warm; die Lufttemperatur ist
natürlich um keinen Milligrad anders als in Friedrichshain. Und doch ist es wie auf einem anderen Planeten. Die Stadt riecht
nach feiner Seife, der Wein schmeckt besser, die Luft perlt wie Champagner – Thorsten fühlt sich so lebendig wie seit Jahren nicht mehr. Nach durchfeierter Nacht nimmt ihn Jürgen am Samstagmorgen mit
zum Schöneberger Winterfeldmarkt, dem größten Wochenmarkt Berlins, auf dem es nicht nur heimisches und exotisches Obst und
Gemüse zu kaufen gibt. Hier, im ehemaligen Hausbesetzerbezirk, gibt es auch Kneipen und Cafés, in denen man vom Kellner weder
platziert noch angeherrscht wird. Die Leute hinter dem Tresen sind so bunt gekleidet wie die Gäste; irgendeine Idee vom Leben
scheint alle hier miteinander zu verbinden. Die Freunde verbringen den Tag im »Slumberland«, einer Kneipe, deren Boden nicht
mit einem Teppich oder Fliesen, sondern weißem Strandsand ausgelegt ist. Thorsten fühlt sich wie in einem karibischen Traum;
sehr weit weg von der Deutschen Demokratischen Republik. Dass ein Ort wie das »Slumberland« nur wenige Kilometer von den trostlosen
Ost-Berliner Kneipen entfernt überhaupt existiert, hätte er nicht für möglich gehalten.
Über die neue Freiheit macht er sich bei aller Euphorie keine Illusionen. Er weiß um die »Verwertungsprinzipien im Kapitalismus«
und hält die marxistische Gesellschaftskritik daran nicht nur für realsozialistisches Geplapper. Thorsten ist ein unabhängiger
Linker. Gerade deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten in der »Lagergesellschaft« der DDR, wie er sie nennt. In diesem Lager
hatte er sich seine Nische gesucht; wie Millionen andere auch. Doch als er sein Philosophiestudium vorzeitig beendet, rückt
ihm der Staatsapparat auf die Pelle. Er hat sich schon lange verdächtig gemacht, die Exmatrikulierung begreift die Staatssicherheit
als Distanzierung von der DDR. Und so ist sie auch gemeint. Thorsten wählt zunächst den Weg in die innere Emigration – er macht sich selbstständig, stellt
transparente Lampenschirme her. Sie erinnern an die weißen japanischen Papierballons, die in den Achtzigern im Westen schwer
in Mode sind. Seine Ballons, die er aus farblosem Latex mit Hilfe eines Drahtkokons in seiner Friedrichshainer Wohnung fabriziert,
verkauft er auf der Straße, an S-Bahnhöfen und auf dem Flohmarkt. Ein paar Stunden Arbeit pro Woche bringen ihn locker durch den realsozialistischen Werksmonat.
In West-Berlin ist das jetzt anders. Thorsten braucht einen Job, ins westdeutsche Auffanglager für Ost-Flüchtlinge will er
nämlich nicht. Also sucht der ehemalige Student des Marxismus-Leninismus im Sommer 1989 einen Job. Er spült das Geschirr in
einem italienischen Restaurant in Wilmersdorf, verteilt Werbeprospekte für eine Supermarktkette, rast als Fahrradkurier von
Charlottenburg nach Spandau, von Kreuzberg nach Zehlendorf, von Neukölln nach Wilmersdorf. Links und rechts der Straße stehen
riesige Werbeplakate. In Ost-Berlin und der DDR war solche Reklame seit Anfang der Siebziger abgeschafft. Von den Plakaten
sprach nur die SED, meist Treuebekenntnisse zur »unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion«. Aber auch das hatte seit
Gorbatschows Reden über Glasnost und Perestroika erheblich nachgelassen.
Während die West-Berliner gegen die Reklametafeln irgendwie immun zu sein scheinen oder sie darin einfach eine stumme Großstadtdekoration
sehen, brüllen die riesigen
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