Deutschland 2.0
West, versteckt in Autos, mit Unterstützung
westlicher Diplomaten, die nicht durchsucht werden können – oder in den hohlen Absätzen von Schuhen westlicher »Tagesbesucher«
(zu denen auch ich gehörte).
Die politisch eher linksalternativ gewirkte Szene, die da über Mauer und Stacheldraht hinweg den Protest in der DDR organisiert,
macht blanken Ernst mit Hoffmann von Fallerslebens etwas verstaubt klingender Hymne von »Einigkeit und Recht und Freiheit«.
Dennoch denkt in der Ost-Berliner Dissidentenszene im Juli 1989 niemand ernsthaft über eine Wiedervereinigung beider deutscher
Staaten nach, und in den Vorstellungen westdeutscher Politiker, gleich welcher Couleur, steht die Frage ebenfalls nirgendwo
auf der Tagesordnung. Viele DD R-Oppositionelle lehnen die Vorstellung eines geeinten Deutschlands sogar rundweg ab. Sie träumen von einer wirklich sozialistischen, demokratischen
DDR, allerhöchstens einer deutsch-deutschen Konföderation, in deren Regierung sie führend mitwirken wollen.
Und trotzdem bringen im geteilten Berlin jener Tage eine kleine Gruppe von Dissidenten und ihre westlichen Sympathisanten
langsam die Verhältnisse zum Schwingen. Von einer Massenbewegung ist die DD R-Opposition zu diesem Zeitpunkt allerdings noch weit entfernt. Während die Solidarnosc in Polen auch nach ihrem Verbot durch das im Dezember
1981 verhängte Kriegsrecht auf eine millionenfache Basis zählen kann, handelt es sich bei der DD R-Dissidentenszene eher um ein Netzwerk lose miteinander verbundener Initiativen und Gruppen. Sechzehn MillionenMenschen leben in der DDR. Zur organisierten Opposition zählen bis zum Sommer 1989 höchstens einige Hundert.
Das ändert sich erst relativ spät mit der Gründung politischer Oppositionsgruppen wie dem Neuen Forum am 10. September 1989 oder der Sozialdemokratischen Partei in der DDR am 7. Oktober. Dennoch bleibt der Organisationsgrad dieser Bewegungen auch nach dem Fall der Mauer erstaunlich gering: Gegen Ende
des Umbruchjahres finden sich im Neuen Forum etwa 10 000 Mitglieder, bei den ostdeutschen Sozialdemokraten nach offiziellen Angaben über 30 000 – doch diese Zahl wird stark bezweifelt. Das größte Unruhepotenzial verortet die Stasi im Sommer 1989 und auch in den
Jahren zuvor sowieso nicht unbedingt bei Dissidenten, die politische Essays oder Grundsatzprogramme verfassen, sondern bei
den Ausreisewilligen. Wird in den achtziger Jahren der Druck im Kessel zu groß, dürfen wieder ein paar Hundert Menschen von
Deutschland nach Deutschland umziehen.
Fast 34 000 Menschen werden von der Bundesrepublik aus den DD R-Gefängnissen freigekauft. Zum Schluss liegt das Kopfgeld bei 95 000 Mark – für die DDR in doppelter Hinsicht ein lohnendes Geschäft. Zum einen wird man die Störenfriede los und schafft Platz
für weitere Häftlinge, zum anderen verdient man einträglich am sogenannten »Häftlingsfreikauf«. Die Deals werden zwischen
Bonn und Berlin in aller Stille abgewickelt. Für den einzelnen Gefangenen, der unter schlimmsten Bedingungen in den berüchtigten
DD R-Knästen einsitzen und mitunter körperliche Misshandlungen oder jahrelange Isolationshaft erleiden musste, war dieses zwielichtige
deutsch-deutsche Geschäft ohne Zweifel ein Deal, der in die Freiheit führte. In der Summe jedoch provoziert der Häftlingsfreikauf
sowie der stete Strom der Ausreisenden von Ost nach West erhebliche negative Konsequenzen für die politische und personelle
Substanz der Anti-SE D-Bewegung .
Eine schlagkräftige DD R-Opposition kann sich lange Zeit auch deshalb nicht aufbauen, weil diejenigen, die genug Mut und Organisationstalent besitzen, gerade
wieder in einen D-Zug nach Westen gesetzt werden. Was für den einzelnen Dissidenten eine »humane Lösung« – so der deutsch-deutsche Sprachgebrauch
bei der Abwicklung solcher Grenzfälle – bedeutet, raubt der demokratischen Bewegung immer wieder das nötige kritische Potenzial,
die unverzichtbaren Erfahrungen im illegalen Kampf. Und mit jedem, der geht oder gehen muss, fehlt der Opposition auch ein
Stück Geschichte – und Selbstbewusstsein.
Voller Respekt blicken viele Regimegegner in der DDR auf das, was die Opposition in Polen im Frühjahr 1989 geleistet hat:
Ein nicht-kommunistischer Premierminister regiert, die Gewerkschaft Solidarnosc und die katholische Kirche besitzen ohne jeden
Zweifel das, was der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci die
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