Deutschland 2.0
Täglich trennen sich Kinder von ihren Eltern, Männer von ihren Frauen, Freunde von Freunden, Kollegen
von Kollegen. Im August weiß noch niemand, dass der ganze realsozialistische Spuk bald ein Ende haben wird. Die Menschen rechnen
eher mit einer langen Zeit der Trennung – denn wer die DDR verlassen hat, darf zu Besuch nicht mehr zurück. Auch Thorsten
ist überzeugt, dass er Verwandte, Freunde und Kollegen sehr lange oder gar nicht wiedersehen wird.
Kaum jemand kehrt der DDR jubelnden Herzens den Rücken, alle lassen ja ihr bisheriges Leben, meist ihr ganzes Hab und Gut
zurück. Keine Träne? In jedem Winkel der Deutschen Demokratischen Republik fließen in diesem Sommer Tränen. Und Honecker macht
zynische Kommentare darüber. Dennoch ist der Sommer ’89 der Sommer der Freiheit. Diesmal kommt sie nicht umsonst, sie muss
von jedem Einzelnen hart erkämpft werden. Die einen flüchten, die anderen gehen auf die Straße: In Leipzig riskieren die Demonstranten
eine Menge, wenn sie montags demonstrierend durch die Stadt ziehen. Am Anfang ein paar Hundert, schließlich ein paar Tausend;
auf dem Höhepunkt der sogenannten Montagsdemonstrationen marschieren 200 000 Menschen durch Leipzig und rufen: »Wir sind das Volk!« Niemand weiß im August und September genau, wie der Staat reagieren
wird. Lässt Honecker die Volksarmee mobilisieren, wird scharf geschossen wie in China auf dem Tiananmen-Platz wenigeWochen zuvor? Die Drohung einer »chinesischen Lösung« steht im Raum, der SE D-Bonze Egon Krenz hat davon gesprochen. Doch nirgendwo kommt es zum Äußersten. Es fällt kein einziger Schuss.
Die Flüchtlinge zahlen einen hohen persönlichen Preis. Zehntausende kehren der DDR den Rücken, das Land erlebt einen massenhaften
Exodus, wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg. Der absurde Charakter des 9. November 1989 liegt darin, dass sich in dieser Nacht einerseits die Freiheit ihre Bahn bricht, dass aber andererseits unter
den Trümmern der in sich zusammenstürzenden Mauer auch all die Entbehrungen, all das Sehnen, aller Mut, alle Bereitschaft
zum Risiko begraben werden. Die Mauer wurde nicht gestürmt wie die Bastille. Geöffnet wurde sie letztlich von ein paar Grenzsoldaten,
einem westdeutschen T V-Moderator und einem Mitglied des SE D-Politbüros , das den Anfang vom Ende der DDR quasi beiläufig auf einer Pressekonferenz bekannt gab. In der Nacht des Mauerfalls überwältigen
Thorsten durchaus ambivalente Gefühle. Er hat seinen Weg in den Westen allein gemacht, mit drei Koffern und einem Bauarbeiterhelm.
Es waren die härtesten Wochen seines Lebens. »Jetzt kommen die alle!«, sagt er zu einem Freund, als sie in Kreuzberg an einer
Kreuzung stehen und die jubelnden Massen an ihnen vorbeiziehen.
Thorsten Schilling ist Anfang der neunziger Jahre wieder nach Ost-Berlin gezogen. Die neuen Bewohner erkennt man unter anderem
daran, dass sie ihre neue Heimat »Prenzlberg« nennen – und nicht Prenzlauer Berg. Er schüttelt sich, wenn er diese Verniedlichung
hört, es klingt so, als wolle man seine alte Heimat in den Südwesten der Republik verlegen. Wenn er sich heute seine neuen
Nachbarn so ansieht, könnte er fast zu dem Ergebnis kommen, dass das auch gelungen ist: Innerhalb von zwanzig Jahren wurde
die Bevölkerung des Prenzlauer Berges fast komplett ausgetauscht. Die Ossis zogen weg – die Wessis kamen. Ihre Erinnerungenan den Mauerfall – wenn sie überhaupt welche haben – sind ganz andere als seine. Für die Neubürger des Prenzlauer Berges wurde
am 9. November ein neues, attraktives Immobilienquartier erschlossen. Für Millionen Ostdeutsche wurde das Leben komplett auf den
Kopf gestellt.
Nicht nur Thorsten war überrascht und irritiert über die rasante politische Entwicklung im Herbst 1989. Und nicht nur die Greise im Politbüro hatten mit einem so schnellen Auseinanderbrechen ihres Staates nicht gerechnet. Auch
die westdeutsche politische Elite traute ihren Augen nicht. Wenn die Ostdeutschen im Herbst 1989 auf die Herrschenden in Bonn
und Ost-Berlin gehört hätten, wäre die Mauer vielleicht nie gefallen. Selten wurden Regierungspolitik und Expertenvorlagen
so blamiert wie während der friedlichen Revolution in der DDR. Die Demonstrationen im Oktober und November 1989 gehören zu den Sternstunden der deutschen Geschichte, weil sich hier endlich
jener demokratische Bürgermut und Freiheitswille artikulierte, den man im grausamen 20.
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