Deutschland 2.0
»Glasnost« (Offenheit) und »Perestroika«, den Umbau
verkrusteter, bürokratischer Strukturen. Die Satellitenstaaten des Moskauer Reichs bekommen Freiheiten gewährt, von denen
die SE D-Führung nichts wissen will. Die Dissonanzen zwischen der mächtigen, zunehmend liberalen Kreml-Führung und den nachgeordneten Parteikadern
in Ost-Berlin beobachtet das Riesenheer der staatsnahen DD R-Funktionäre mit großer Aufmerksamkeit: die alten, unter Stalin, Ulbricht und Honecker sozialisierten Kader mit zunehmender Sorge, der
junge Nachwuchs meist hoffnungsfroh.So bilden sich in Partei und Staat vorsichtig zwei Strömungen heraus: alte Hardliner und junge Reformer.
Diese Fraktionsbildung schadet naturgemäß dem machtvollen Repressionsapparat. Stasi, Nationale Volksarmee, Polizei, Justiz
und Propagandaabteilungen beginnen widersprüchlich zu agieren. Das ist für alle Ausformungen von Widerstand durchaus vorteilhaft.
Hinzu treten weitere Politverschiebungen: Der Westen behandelt den Osten mit einer verwirrenden Doppelstrategie. Einerseits
zwingt die amerikanische Hochrüstung, gekoppelt mit einer aggressiven Wirtschaftspolitik, die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten
in einen Wettbewerb, den sie immer schneller (und auch sichtbar) zu verlieren drohen. Andererseits ist die Bundesrepublik
durchweg nett und hilfsbereit zu den »Brüdern und Schwestern« im kleineren, ärmeren Teil des Landes. Man lädt ein, diskutiert
auf allen möglichen Ebenen, bildet Kooperationen und Städtepartnerschaften, macht großzügige Geschenke und räumt der insolventen
DDR Riesenkredite ein. Beim Zusammenbruch 1989 hat die DDR 41 Milliarden Westmark Schulden.
In dieser Situation – pleite, von den Russen im Stich gelassen und mit einem Staatsvolk, das sich massenhaft in das andere
Deutschland absetzt – kann die gebeutelte Partei- und Staatsführung keine Zähne mehr zeigen, zumal auch sonst alles gegen
sie läuft: Die Männer im Osten wollen endlich anständige Autos und keine Zweitakter mehr fahren; die Frauen finden Quelle-Mode
chicer als DD R-Kittelschürzen und die Jugend sehnt sich nach westlichem Rock und Pop, nicht nach dem Liedgut der Volkssolidarität. Dieses Unbehagen, das
sich wie eine dunkle Wolke über alle Schichten, Berufe und DD R-Strukturen legt, verdichtet sich 1989 auf atemberaubende Weise. Die Kernzelle des Protests, die wenige Monate später eine Kettenreaktion
in Gang setzen wird, ist im Juli 1989 längst geschaffen und arbeitet auf Hochtouren. Und obwohl in den fünfziger Jahren eher
die Sozialdemokratenund in den Achtzigern die Konservativen das Thema Deutsche Einheit für sich reklamierten, gehören die Aktivisten der Opposition
diesseits und jenseits der Mauer oft eher zum alternativen, grünen, intellektuellen, undogmatischen Milieu. Auch in der evangelischen
Kirche der DDR, unter deren Dach sich die DD R-Opposition versammelt, gehören die Regimegegner zu einer politisch zwar beachtlichen, aber dennoch kleinen Minderheit.
Die etablierten westlichen Parteien kommentieren die galoppierenden Ereignisse im Osten zwar, organisiert wird die Unterstützung
des Protests aber woanders: außerhalb der Parteizentralen. Es finden sich zwar in fast allen Parteien Sympathisanten der DD R-Opposition . Die politische Doktrin, die vom westlichen Establishment verfolgt wird, setzt bis zum Sommer 1989 allerdings nicht auf Konfrontation
mit dem SE D-Staat , sondern nach wie vor auf »Wandel durch Annäherung«, auf »Realpolitik«, auf »Dialog« – mit der Staatspartei wohlgemerkt,
nicht etwa mit der Opposition. Auch diese Tatsache erklärt, warum es die DD R-Bürgerrechtler mit ihren libertären politischen Ansichten, die sich mit althergebrachten, westlich geprägten Rechts-Links-Schemata nicht
definieren lassen, später auch sehr schwer haben werden, im westdeutschen Parteiensystem Fuß zu fassen. Der Protest kommt
von unten, von jungen Leuten in der DDR, die ihr Leben noch vor sich haben und nichts als Mehltau und graue Propaganda sehen,
wenn sie nach vorn blicken. Ihre Vorstellung von Einigkeit im geteilten Deutschland fußt auf der Erkenntnis, dass man sechzehn
Millionen Deutschen nicht einfach grundlos Menschen- und Freiheitsrechte vorenthalten darf. »Wir wollten so leben wie die
Leute drüben auch«, sagt Thorsten Schilling Was heute nach einer banalen Forderung klingt, besaß damals die höchste vorstellbare
politische Sprengkraft im geteilten
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