Deutschland 2.0
Ikonen des Kapitalismus den Neubürger Thorsten Schilling buchstäblich an. Er hört die Slogans
in seinem Kopf, wenn er im Doppeldeckerbus durch Berlins Straßenschluchten fährt.
Bonduelle ist das famose Zartgemüse aus der Dose!
, hämmert es in seinen Ohren,
Müller Milch, Müller Milch, Müller Milch, die schmeckt
, plärrt es, und dann folgt gnadenlos die zweite Strophe:
Müller Milch, Müller Milch, die weckt, was in dir steckt!
Gar nicht zu reden von
Oma, Oma, kennst du schon den Blubb?
(Spinatwerbung von Iglo) oder
Mein BAC, dein BAC, BAC ist für uns alle da!
(Deo-Reklame) oder
Waschmaschinen leben läger mit Calgon!
Manchmal hält Thorsten diese allgegenwärtigen Liturgien des Kapitalismus kaum aus.
SPALT, schaltet den Schmerz ab!
, steht auf der nächsten Tafel. Bei ihm rufen solche Sprüche erst Kopfschmerzen hervor. Thorsten hat ein Wort für diese Stimmen
im Kopf: »Adaptionsstress«. Nach einer Weile legen sich die Symptome.
Dieser Adaptionsstress befällt nach der Wiedervereinigung Millionen Ostdeutsche. Auf die kollektive Euphorie folgen »Distanz,
Enttäuschung, Hass«, wie der ›Spiegel‹ bereits im August 1992 kühl konstatiert. Depression im Osten, Gleichgültigkeit im Westen
– »Frust statt Lust im wiedervereinigten Deutschland«. Die meisten Ostdeutschen sind auf die neue Lebenswirklichkeit weniger
vorbereitet als Thorsten Schilling. Natürlich kennt man den Westen aus dem Fernsehen, in fast jeder Großfamilie gibt es westdeutsche
Verwandtschaft. Doch zu Beginn der neunziger Jahre gibt es nun in fast jeder ostdeutschen Großfamilie auch Arbeitslose, und
in fast jeder Sippe kursieren üble Geschichten darüber, wie irgendein Verwandter von einem Wessi übers Ohr gehauen wurde.
Wo man neben der neuen Freiheit auch Gleichheit und Brüderlichkeit erwartete, lauert nicht selten reine Abzocke. Da werdenim Osten von fliegenden westlichen Händlern Gebrauchtwagen oder Farbfernseher zu irren Preisen verhökert oder überteuerte
Kredite verscherbelt. In den ostdeutschen Amtsstuben und den Parteien übernehmen immer mehr Westler das Kommando. Frust macht
sich breit. Schon der Gang zum Supermarkt kann ziemlich anstrengend werden. »Gelernte« Westdeutsche können das vielleicht
schwer nachvollziehen, doch was Thorsten Schilling im Sommer ’89 in einer Kreuzberger Markthalle passiert, wird später die
gesamte Bevölkerung der DDR erleben: »Haben Sie Salami?«, fragt er in einer Kreuzberger Kaufhalle. »Ja, welche denn?«, fragt
die Verkäuferin zurück.
Die Antwort macht ihn wütend. Im Osten hätte die Angestellte jetzt Ja oder Nein gesagt, dann eventuell nach der Menge gefragt,
fertig. Im Westen fängt der Stress jetzt erst an. Es gibt deutsche, italienische, ungarische, französische und spanische Salami.
Salami am Stück, in Scheiben, luftgetrocknet, mit Pfeffer, mit Knoblauch und Wein. Salami vom Schwein oder Rind oder von beidem.
Mit Paprika, Trüffeln, Camembert oder Nüssen. Grobkörnig, feinkörnig, mittelkörnig. Mild bis süßlich, würzig oder salzig.
Tiefrot, rosa oder braun. »Welche wollen Sie denn jetzt? Und wie viel?« Thorsten hat studiert, er hat sich den Kopf zerbrochen
über Marx und Engels, über Jacques Derrida, Albert Camus und Jean Baudrillard. Und jetzt trifft er diese Verkäuferin in Kreuzberg
und stellt fest, dass sie sich in der Postmoderne tausendmal besser zurechtfindet als er – obwohl sie die Postmoderne vermutlich
bestenfalls für eine neue Abteilung des deutschen Paketdienstes hält. Der Gedanke, dass alle Theorie, das jahrelange nächtelange
Lesen philosophischer Klassiker, das mitunter sehr schmerzvolle Nachdenken über Gott und die geteilte Welt ihn an dieser Wursttheke
keinen Millimeter weiterbringt, nagt an ihm, er produziert geradezu Groll. Er hat keine Illusionen über den Westen, aber das
Leben im Westen ist anstrengender, als er angenommen hat.
Thorsten verbringt dennoch einen ziemlich unbeschwerten Sommer in West-Berlin, die Nächte sind lang und feuchtfröhlich. Natürlich
verfolgt er die Ereignisse in der DDR. Immer mehr Menschen wollen raus. Und immer mehr Menschen schaffen es über die Grenze. Viele DD R-Bürger setzen sich über Ungarn oder die Tschechoslowakei ab – bis das Regime auch diese Möglichkeit verbaut. »Wir weinen ihnen keine
Träne nach!«, schimpft Honecker über die sogenannten Republikflüchtlinge und Grenzverletzer. In der Realität sieht natürlich
auch das anders aus.
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