Deutschland 2.0
mit meiner Familie
von Berlin aus oft in Badeorte wie Ahlbeck oder Binz auf den Ostseeinseln Usedom und Rügen. Die Gegend liegt in ihrem kargen
Gepräge zwar am Rand der Republik, aber dennoch mitten in Europa. Inzwischen kann man am Strand nach Polen laufen, der Stacheldraht
ist weg. Die prächtigen Strandvillen zwischen Heringsdorf und Ahlbeck sind Juwelen deutscher Architekturgeschichte, und im
Gegensatz zu früher kann man sie mieten, ohne auf einer Warteliste zu stehen oder einen Partei- oder Gewerkschaftsausweis
vorzeigen zu müssen. Die Preise sind übrigens nicht höher als in Oberbayern. Wem das trotzdem zu teuer ist, kann sich in Swinemünde
einquartieren, in der polnischen Hafen- und Grenzstadt ist im Sommer abends mehr los auf den Straßen als in den deutschen
Nachbarorten.
Die Strandspaziergänge über den weißen Sand zwischen Ostdeutschland und Westpolen, die Fähren von Ahlbeck nach Misdroy erscheinen
uns heute ganz selbstverständlich. Tatsächlich ist diese wiedergewonnene Normalität am weißen Ostseestrand ein unglaublicher
historischer politischer Erfolg. Die größten deutschen Verbrechen wurden auf polnischem Boden begangen, Auschwitz war eine
adrette polnische Kleinstadt, bevor die Nazis den Ort in ein weltweites Synonym für fabrikmäßigen Massenmordverwandelten. Es mag sein, dass das deutsch-polnische Verhältnis noch längst nicht so abgesichert und von Institutionen und
Städtepartnerschaften durchzogen ist wie die sprichwörtliche deutsch-französische Freundschaft. Eine tagespolitische Dummheit,
eine törichte Äußerung reicht mitunter auch heute noch, um eine diplomatische Krise auszulösen. Und es stimmt: An der deutsch-polnischen
Grenze wird auch heute oft noch gefremdelt, Debatten wie die um das Zentrum gegen Vertreibungen und die Vorsitzende des Bundes
der Vertriebenen, Erika Steinbach, erinnern sogar manchmal an die Zeit aus dem Kalten Krieg. Aber insgeheim wissen Polen und
Deutsche, dass diese Diskussionen von gestern sind. Im Alltag funktioniert die Nachbarschaft immer besser. In Slubice und
Frankfurt an der Oder besuchen deutsche und polnische Studenten dieselbe Hochschule, die Viadrina, und versuchen dort nicht
nur einen gemeinsamen Uni-Alltag, sondern vor allem ein deutsch-polnisches Geschichtsbild zu entwerfen. Der vielleicht überzeugendste
Hinweis darauf, dass das deutsch-polnische Verhältnis immer besser wird, findet sich in der bundesrepublikanischen Heiratsstatistik:
Bei Eheschließungen mit Ausländern stehen Hochzeiten zwischen Deutschen und Polinen auf Platz eins.
Glück, Leistung, Erfolg: Über diese Kategorien der deutschen Einheit kann ich auch ganz privat urteilen. Mein kleines Glück
liegt südwestlich von Berlin in einer Schrebergartenkolonie. Mein Schwager David Gill hat 1989 / 90 die Stasi maßgeblich mit aufgelöst und arbeitet heute als Justitiar der Evangelischen Kirche mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Eine ostdeutsche Cousine sitzt heute in einer der oberen Etagen des Daimler-Hochhauses am Potsdamer Platz. Ein anderer Cousin
aus Sachsen-Anhalt versucht, den Bauernhof in Keutschen bei Weißenfels zu bewirtschaften und hält dort tapfer die Stellung.
Ost und West – wer glücklicher ist, darüber will ich nicht urteilen. Dafür sind wir vorallem selbst verantwortlich. Eines aber ist sicher: Die kategorische Einteilung der Deutschen in Ossis und Wessis macht heute
keinen Sinn mehr. Die Unterschiede verwehen. Die Generation der Deutschen, die nach der Wende groß geworden ist und inzwischen
bereits die Schule hinter sich gelassen hat, interessiert sich für alles Mögliche – nur nicht mehr für diese Unterscheidung.
Viele Ostdeutsche, denen es schon vor zwanzig Jahren zu blöd war, sich selbst in eine Schublade packen zu lassen, zogen gleich
an Westdeutschland vorbei und ließen sich im Ausland nieder. In New York oder San Francisco fragt kein Amerikaner danach,
ob man Ossi oder Wessi ist. Für Amerikaner gibt es nur Deutsche – die entweder etwas aus ihrem Leben machen oder nicht. Es
ist höchste Zeit, das wir Deutschen uns nach zwanzig Jahren diesen Blick ebenfalls zu eigen machen. Denn unsere Zukunft wird
nicht über einen medial ständig befeuerten Ost-West-Konflikt entschieden. Ost- und Westdeutschland sind sich in den vergangenen
zwanzig Jahren viel nähergekommen, als wir selbst zugeben wollen. Von gleichen Lebensverhältnissen im ganzen Land sind wir
dennoch weit
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